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Mikrogeschichte

Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit
ISBN/EAN: 9783593389097
Umbreit-Nr.: 1647101

Sprache: Deutsch
Umfang: 410 S.
Format in cm: 2.5 x 21.3 x 14
Einband: Paperback

Erschienen am 11.05.2009
Auflage: 1/2009
€ 46,00
(inklusive MwSt.)
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  • Zusatztext
    • Ein Vogt, der seinem Herrn die Stirn bietet, eine junge Frau, die sich weigert, eine schon geschlossene Ehe zu vollziehen, ein zündelnder »Kurpfuscher « - das sind nur drei der Geschichten aus der Zeit zwischen 1600 und 1800, mit denen Otto Ulbricht in die unterschiedlichen Welten unbekannter Menschen einführt. Sie stehen als Beispiele für wichtige Themen der Frühneuzeitforschung wie Sozialdisziplinierung oder Medikalisierung. Gleichzeitig führt der Autor in die Entwicklung der Mikrohistorie als geschichtswissenschaftlicher Betrachtungsweise ein, referiert deren neuesten Stand und macht deutlich, welche Felder historischer Forschung die Mikrogeschichte in Zukunft erschließen kann.

  • Schlagzeile
    • Mikrogeschichte - revisited
  • Leseprobe
    • 3.1 Blicke zurück Während wie eingangs dargestellt am Anfang der italienischen microstoria eine Studie steht, die von einer Person ausgeht Ginzburgs Müller, wie auch ein Dorf in Kombination mit einer zeitweise in den Vordergrund gerückten Person (Santena und der Priester Chiesa), haben mikrogeschichtliche Arbeiten in Deutschland Dörfer als Untersuchungseinheiten vorgezogen. In den USA dagegen stellen mikrogeschichtlich beeinflusste Historiker das Individuum häufiger in den Mittelpunkt und wählen als Darstellungsweise oft die Erzählung. In diesem Band wurde der Versuch gemacht, von einem Ereignis im Leben einer Person auszugehen. Auf dieser Basis wurde dann, abhängig von Quellenlage und Thematik, mikrogeschichtlich gearbeitet, teilweise eher traditionell, teilweise experimentierend. Dabei wurde das jeweilige Problem inhaltlicher oder methodischer Art am Anfang des jeweiligen Kapitels dargestellt. Abschließend sollen zuerst die mikrogeschichtlichen Gemeinsamkeiten, die hier zum Teil in besonderer Akzentuierung hervortreten, dargestellt werden. Da von einem Ereignis im Lebens eines Menschen ausgegangen wurde, rückte in den vorangehenden Kapiteln das Individuum und mit ihm das Problem der Handlungsfähigkeit und möglichkeiten, der agency, in den Vordergrund. Als zweites wird hier daher eine Theorie vorgestellt, welche die Unterschiedlichkeit von agency, wie sie bei den verschiedenen Personen hervortrat, erklären kann. Dann werden Möglichkeiten gezeigt, neue Forschungsfelder mikrogeschichtlich zu bearbeiten, teils in enger Verbindung zu den vorangehenden Kapiteln, teils darüber hinausgehend. Alle Arten von Mikrogeschichte weisen verständlicherweise Gemeinsamkeiten auf, auch wenn diese jeweils in unterschiedlichem Maß in Erscheinung treten. Drei davon erscheinen so wichtig (und prägen auch die vorangehenden Kapitel), dass es sinnvoll ist, sie noch einmal besonders hervorzuheben. Es sind zum einen die größere Realitätsnähe mikrogeschichtlicher Studien, zum anderen die Betonung der Komplexität und Uneinheitlichkeit von vergangenen Welten und schließlich der Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Mikrogeschichtliche Arbeiten weisen eine größere Realitätsnähe auf als viele traditionelle Studien und vermitteln daher auch ein Mehr an Realitätssinn für die jeweilige Epoche und ihre Menschen. Dieser größere Sinn für vergangene Wirklichkeiten entsteht auf vielerlei Weise. Zuerst einmal wird er bewirkt durch die Konkretheit all dessen, was über die kleinen untersuchten Einheiten herausgefunden werden konnte. Dadurch dass von Ereignissen im Leben eines Menschen ausgegangen wurde, konnten soziale Prozesse in konkreter Form dargestellt, das heißt ihr Verlauf in den einzelnen Phasen gezeigt werden. Gleichgültig, ob es nun ein Weg zu einer Eheschließung war, die sich schließlich zu einem handfesten Konflikt entwickelte, oder der Versuch, die ausgeübte Tätigkeit als Heiler gegen den das Medizinalwesen ausbauenden Staat zu behaupten, stets erzeugen die Studien eine gleichsam erlebbare Nähe zu vergangenen Welten, während die Untersuchung von Großeinheiten durch Distanz und Allgemeinheit geprägt ist. Bei ihnen - und noch mehr bei historischen Synthesen - nimmt der Realitätsgehalt deutlich ab, worauf die Verfasser des öfteren selbst aufmerksam machen, wenn sie bemerken, dass es in der Realität anders war. Es ist daher völlig richtig, wenn Siegfried Kracauer festgestellt hat: "Wir erfahren nicht genug über die Vergangenheit, wenn wir uns auf die Makro-Einheiten konzentrieren." Dabei dachte der Autor nicht einmal - er konnte es zu jener Zeit auch noch gar nicht - an mikrogeschichtliche Studien, sondern lediglich an detailreiche Monographien. Größere Realitätsnähe entsteht auch dadurch, dass gezeigt werden kann, wie die Dinge funktioniert haben; wenn demonstriert werden kann, auf welche Art und Weise sich Prozesse tatsächlich vollzogen haben. Die auf Kausalität zielende Argumentation: "die Kombination von schnell wachsender Bevölkerung und damit nicht Schritt haltender Produktion der Landwirtschaft und spät anspringender Industrieller Revolution hatte Massenarmut und Bettelei zur Folge" ist eine Sache, wie Bettelei aber funktionierte und was sie für die Menschen bedeutete, eine andere. An die Seite der relativ abstrakten Logik tritt in der mikrogeschichtlichen Perspektive die Anschaulichkeit des Lebens. Das Funktionieren des Bettelwesens wird erst richtig verständlich, wenn man erfährt, dass zur Bettelei zum Beispiel eine Organisation und die Beziehungen zu anderen Menschen auf der Straße gehörten, unter ihnen auch zu Frauen; wenn man erfährt, dass eine bestimmte Art von Religiosität, in der die Erhaltung der Gesundheit großen Stellenwert hatte, damit einherging. Das Beispiel Kestners zeigt beides. Da in vielen Fällen die Trennung von Makrogeschichte und Mikrogeschichte nicht gegeben ist, stellt die mikrogeschichtliche Betrachtungsweise eine schärfere Sicht und tieferes Verständnis des Makro dar. Was eine amerikanische Soziologin schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert bei einem Plädoyer für die Mikrosoziologie feststellte, gilt somit auch für die Mikrogeschichte: "[] es sind die mikrosozialen Ansätze, durch die wir am meisten über die Makro-Verhältnisse lernen werden, denn es sind diese Ansätze, die uns durch ihre empirische Ausrichtung, deren sie sich nicht schämen, einen Blick auf die Wirklichkeit erlauben, über die wir sprechen". So rückt zum Beispiel die bei der Untersuchung der Arbeitsweise Kestners festgestellte weitgehende Wirkungslosigkeit von Sozialdisziplinierung oder auch Guter Polizey auf dem Gebiet der Bettelbekämpfung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts das durch die Makrokonzepte geschaffene Bild zurecht. Zum anderen hat eine Geschichtsschreibung, die auf Durchschnitte, Typen und Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet war, ein allzu einheitliches Bild der Vergangenheit geliefert - viel zu einfach jedenfalls, solange ein solches Bild allein vorherrscht. Bedingt durch ihre andere Betrachtungsweise - aus der Nähe und von innen -, setzt die Mikrogeschichte dem ein Bild der vergangenen Welt entgegen, das sich durch Uneinheitlichkeit und Komplexität auszeichnet. Das erscheint auf den ersten Blick als eine dürftige Erkenntnis, ist es aber in Wirklichkeit nicht. Zum einen wird auch heutzutage noch des öfteren ein Verständnis von vergangenen Gesellschaften als klein und einfach vertreten, im Unterschied zu den großen und durch die funktionale Ausdifferenzierung komplexen Einheiten in modernen Zeiten. Daher besteht in der Historiographie eine Tendenz, die sozialen Grundeinheiten in der Vergangenheit nicht nur als klein und einfach, sondern auch geprägt durch eine einheitliche Kultur zu sehen. Aber die Identifikation von groß gleich komplex und klein gleich einfach haben Ethnologen - und nicht nur sie - problematisiert, und die Vorstellung von einer homogenen Kultur findet heute kaum noch Verfechter. Auch die Studien in diesem Band stützen solche Gleichsetzungen nicht. Wichtig ist hier nicht - da bekannt -, dass die Welt des Gutsvogts Paulsen eine andere war als die des Kaufmanns Böckmann, sondern dass Paulsen ein Beispiel für jene Menschen darstellt, die freiwillig in die Gutsgebiete gingen, und gleichzeitig eines für die Möglichkeit des Aufstiegs innerhalb der Gutsherrschaft und -wirtschaft. Wichtig ist es auch zu sehen, dass Paulsen nicht nur Vogt, sondern überdies Bauer und Kreditgeber war, ganz abgesehen von seiner Rolle als Familienvater, dem das Überleben der nächsten Generation in Freiheit am Herzen lag. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Das Verlassen des Gutes durch Clauß Paulsen sieht aus der Makroperspektive, die man durch die Schlagworte "Ausbau der Gutsherrschaft und -wirtschaft oder zweite Leibeigenschaft" charakterisiert sehen kann, wie eines der vielen Beispiele von Flucht aus der Leibeigenschaft wegen erhöhter Frondienste und bzw. oder Beschränkung der persönlichen Freiheit aus. Paulsen gehört aus diesem Blickwinkel unter die Kat...
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