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Menschenrechte in der Weltgesellschaft

eBook - Deutungswandel und Wirkungsweise eines globalen Leitwerts, Studien zur Weltgesellschaft/World Society Studies
ISBN/EAN: 9783593432564
Umbreit-Nr.: 8472060

Sprache: Deutsch
Umfang: 398 S., 2.67 MB
Format in cm:
Einband: Keine Angabe

Erschienen am 12.11.2015
Auflage: 1/2015


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Format: PDF
DRM: Digitales Wasserzeichen
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  • Zusatztext
    • Armut, Entwicklung, Terrorismus und Behinderung - alles wird in einen menschenrechtlichen Bezugsrahmen gestellt. Seit wann sind Menschenrechte zu einem globalen Leitwert avanciert und weshalb? Der erste soziologische Band zu Menschenrechten im deutschsprachigen Raum geht dieser Frage aus unterschiedlichen Perspektiven nach: Er vermittelt einerseits einen Überblick über wichtige theoretische Ansätze wie dem Neo-Institutionalismus, der Systemtheorie und Hans Joas' Genealogie der Menschenrechte. Anderseits versammelt er empirische Fallstudien etwa zu Indigenenrechten, der Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zu den Arbeitsrechten der ILO und den Rechtsverletzungen in "extraterritorialen Räumen " am Beispiel der Hohen See.Die Reihe "Studien zur Weltgesellschaft" bietet ein Forum für die im deutschen Sprachraum bisher verstreut veröffentlichten Beiträge zur soziologischen Globalisierungs- und Weltgesellschaftsforschung. Sie knüpft an etablierte Programme an, wie die neo-institutionalistische World-Polity-Forschung und die systemtheoretische Soziologie der Weltgesellschaft, und zielt zugleich auf die kritische Auseinandersetzung mit allen sozialund geschichtswissenschaftlichen Forschungsprogrammen, die theoriebewusst globale Strukturen und Dynamiken analysieren. Studien zu globalen Institutionen und Diffusionsprozessen finden daher ebenso Eingang wie Untersuchungen zu transnationalen Bewegungen und Netzwerken sowie historische Fallstudien zu Kolonialismus, Imperialismus und der Entstehung moderner Nationalstaaten.

  • Kurztext
    • Armut, Entwicklung, Terrorismus und Behinderung - alles wird in einen menschenrechtlichen Bezugsrahmen gestellt. Seit wann sind Menschenrechte zu einem globalen Leitwert avanciert und weshalb? Der erste soziologische Band zu Menschenrechten im deutschsprachigen Raum geht dieser Frage aus unterschiedlichen Perspektiven nach: Er vermittelt einerseits einen Überblick über wichtige theoretische Ansätze wie dem Neo-Institutionalismus, der Systemtheorie und Hans Joas' Genealogie der Menschenrechte. Anderseits versammelt er empirische Fallstudien etwa zu Indigenenrechten, der Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zu den Arbeitsrechten der ILO und den Rechtsverletzungen in "extraterritorialen Räumen " am Beispiel der Hohen See.

      Die Reihe "Studien zur Weltgesellschaft" bietet ein Forum für die im deutschen Sprachraum bisher verstreut veröffentlichten Beiträge zur soziologischen Globalisierungs- und Weltgesellschaftsforschung. Sie knüpft an etablierte Programme an, wie die neo-institutionalistische World-Polity-Forschung und die systemtheoretische Soziologie der Weltgesellschaft, und zielt zugleich auf die kritische Auseinandersetzung mit allen sozialund geschichtswissenschaftlichen Forschungsprogrammen, die theoriebewusst globale Strukturen und Dynamiken analysieren. Studien zu globalen Institutionen und Diffusionsprozessen finden daher ebenso Eingang wie Untersuchungen zu transnationalen Bewegungen und Netzwerken sowie historische Fallstudien zu Kolonialismus, Imperialismus und der Entstehung moderner Nationalstaaten.

  • Leseprobe
    • Einleitung<br/><br/>Bettina Heintz und Britta Leisering<br/><br/>Weshalb Menschenrechte? 2013 verkündete Stephen Hopgood in seinem Buch The Endtimes of Human Rights, dass die Hochphase der Menschenrechte ihr Ende erreicht habe. Schuld daran sei die Allianz, die die Menschenrechtsbewegung mit den westlichen Staaten und deren Partikularinteressen eingegangen sei. Hopgood ist nicht der Einzige, der angesichts der politischen Entwicklungen der letzten Zeit eine Abschwächung der Bedeutung der Menschenrechte vermutet. Ob sich diese Endzeitdiagnosen bewahrheiten, lässt sich heute nicht entscheiden. Sie verweisen aber darauf, dass die Relevanz und Deutung der Menschenrechte historisch kontingent und immer auch umstritten ist. Diese Kontingenz und Variabilität ist der Ausgangspunkt des Bandes. Im Mittelpunkt steht der Aufstieg der Menschenrechte zu einem globalen Leitwert und die Frage, mit welchen, auch konfligierenden Interpretationen und Ansprüchen sie verbunden werden. Der Band deckt den Zeitraum von der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 bis heute ab und untersucht, auf welche Weise und mit welchen Folgen Menschenrechte seit den 1970er Jahren zu einem globalen politischen und moralischen Bezugspunkt wurden. Der Fokus liegt also auf globalen Menschenrechten, d.h. auf Rechten, auf die alle Menschen unterschiedslos einen Anspruch haben und für deren Umsetzung sich auch die Staatengemeinschaft verantwortlich erklärt.<br/>Der Band ist im deutschsprachigen Raum der erste soziologische Sammelband zu Menschenrechten. Dagegen liegen im englischsprachigen Raum bereits mehrere Aufsatzsammlungen vor, die einen genuin soziologischen Blick auf Menschenrechte zu entwickeln suchen (etwa Morgan/Turner 2009; Hynes u.a. 2011; Madsen/Verschraegen 2013; Armaline u.a. 2015). Diese Differenz ist ein Indiz dafür, dass Menschenrechte in der deutschen Soziologie noch kein etablierter Forschungsgegenstand sind - im Gegensatz zu anderen Disziplinen, insbesondere der Philosophie, der Politikwissenschaft und der Geschichte, in der sie um einiges früher angekommen sind (vgl. nur Gosepath/Lohmann 1998; Pollmann/Lohmann 2012; Brunkhorst u.a. 1999; Hoffmann 2010; Eckel/Moyn 2012).<br/>Der Band ist gleichzeitig der erste Band, der Menschenrechte konsequent in den Kontext der Weltgesellschaft stellt. Menschenrechte sind nicht nur ein globales Phänomen, sie sind vor allem eines, das in Kovariation mit einer Phase globaler Verdichtung entstanden ist, die allerdings eine lange Vorgeschichte hat (vgl. etwa Osterhammel 2011). Die sich nach 1945 beschleunigenden Globalisierungsprozesse, die in den 1970er Jahren von einigen Soziologen auf den Begriff einer "Weltgesellschaft" gebracht wurden (dazu Greve/Heintz 2005), sind das Umfeld, in denen die Menschenrechte groß geworden sind - oder überhaupt groß werden konnten. Die Beiträge des Bandes beschränken sich aber nicht auf die allgemeine Feststellung eines Zusammenhangs zwischen Globalisierung und Menschenrechten, vielmehr zeigen sie im Einzelnen auf, wie sich Veränderungen in den weltgesellschaftlichen Strukturen und Problemwahrnehmungen auf Menschenrechte auswirken und wie diese ihrerseits zu solchen Veränderungen beitragen können. Mit seinen weltgesellschaftlichen Bezügen und seiner Fokussierung auf globale Aushandlungsprozesse und Deutungskonflikte unterscheidet sich der Band von anderen Studien, die die lokale bzw. nationale Ebene ins Zentrum rücken oder den Aufstieg der Menschenrechte als Ergebnis punktueller Globalisierungsprozesse verstehen.<br/>Das Anliegen, die Entwicklung der Menschenrechte vor einem weltgesellschaftstheoretischen Hintergrund zu interpretieren, verweist auf eine zweite Besonderheit des Bandes: sein Anspruch, zu einer soziologischen Theorie der Menschenrechte beizutragen. Der erste Teil des Bandes führt in die im deutschsprachigen Raum bekanntesten soziologischen Theorien der Menschenrechte ein. Mit Ausnahme der Position von Hans Joas, der als Autor leider nicht vertreten ist, werden sie von drei Vertretern dieser Theorien ausführlich vorgestellt und auf ihr Erklärungspotenzial hin geprüft: die Systemtheorie, der Stanforder Neo-Institutionalismus und die von Pierre Bourdieu inspirierte globale Feldtheorie. Die drei Theorien zeigen das Spektrum an Perspektiven auf, aus denen man sich Menschenrechten soziologisch nähern kann. Wie sie empirisch fruchtbar gemacht werden können, illustrieren die empirischen Analysen im zweiten Teil.<br/>Der inhaltliche Fokus des Bandes liegt auf der Untersuchung des Bedeutungswandels der Menschenrechte auf globaler Ebene - auf ihrer sich ändernden und oft auch konfliktiven Interpretation und Auslegung. Dieser wissenssoziologische Zugang und seine Perspektiven für eine historische Soziologie der Menschenrechte ist eine weitere Besonderheit des Bandes. Ausgangspunkt ist die Annahme einer interpretativen Offenheit der Menschenrechte. Menschenrechte stehen nicht ein für alle Mal fest, sondern verändern sich ständig: Sie werden politisch umgedeutet, erweitert und auch rechtlich neu ausgelegt. Daraus ergeben sich Deutungskonflikte über die "richtige" Interpretation und Widersprüche in der Formulierung der Menschenrechte: Individualrechte stehen neben Kollektivrechten, das Recht auf eine eigene Kultur neben dem Bekenntnis zur Universalität der Menschenrechte. Diese Umdeutungen, Konflikte und Widersprüche stehen im Zentrum der empirischen Fallanalysen im zweiten Teil. Am Beispiel der Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der beiden UN-Menschenrechtskonferenzen 1968 in Teheran und 1993 in Wien, der Arbeitsrechte der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, der Rechte der Indigenen und der Grenzkontrollen auf der Hohen See des Mittelmeers untersuchen sie, wie sich die Relevanz und die Bedeutung der Menschenrechte seit 1948 verändert haben.<br/>Mit dieser Ausrichtung grenzt sich der Band von der bisherigen soziologischen Forschung ab, die sich schwerpunktmäßig mit der Frage der Umsetzung der Menschenrechte beschäftigt. In diesem Zusammenhang sind vor allem im Kontext des Stanforder Neo-Institutionalismus eine Reihe von quantitativen Untersuchungen erschienen, die der Frage nachgehen, weshalb die Ratifikation von UN-Menschenrechtskonventionen auf nationaler Ebene oft kaum Auswirkungen hat (exemplarisch Cole 2012). Komplementär dazu wurde in qualitativen Studien untersucht, in welchem Ausmaß und auf welche Weise global konsentierte Menschenrechtsstandards auf lokaler Ebene interpretiert, übersetzt und an die jeweiligen Verhältnisse angepasst werden - oder auch nicht (exemplarisch Boyle 2002). Daneben gibt es auch eine Vielzahl von Studien zur Rolle und Bedeutung der transnationalen Menschenrechtsbewegung und ihren "Moralkampagnen" (Stammers 2009) und einige wenige Arbeiten zur Bedeutung von Gerichten für die (Neu-)Auslegung einmal vereinbarter Menschenrechtsnormen (exemplarisch Koenig 2015).<br/><br/>Überblick über die Beiträge<br/><br/>Die Beiträge des ersten Teils "Die weltgesellschaftliche Verortung der Menschenrechte" dokumentieren die Vielfalt an theoretischen Perspektiven, auf die eine soziologische Erklärung der Menschenrechte in der Weltgesellschaft zurückgreifen kann.<br/>Den Auftakt macht ein Beitrag von Bettina Heintz, der der Frage nachgeht, worin der fachspezifische Kern einer Soziologie der Menschenrechte bestehen könnte und wie sich dieser mit einer weltgesellschaftstheoretischen Perspektive verbinden lässt. Nach der Darstellung einiger Thesen und Ergebnisse der neueren historischen Forschung zu Menschenrechten werden zunächst drei theoretische Programme vorgestellt, die eine unterschiedliche Sicht auf Menschenrechte ermöglichen: die Systemtheorie, der Stanforder Neo-Institutionalismus und Hans Joas "affirmative Genealogie" der Menschenrechte, die er 2011 in seinem Buch Die Sakralität der Person vorgelegt hat. In einem zweiten Schritt werden die Einsichten der drei Theorien durch einen - auch stärker empirisch angeleiteten - Blick auf die Weltgesellschaft und ihre Umbrüche ergänzt. Am Beispiel von vier Themenbereichen wird gezeigt, welche Erklärungsperspektiven sich eröffnen, wenn man Menschenrechte konsequent auf ihren weltgesellschaftlichen Kontext bezieht. Dieser erste Beitrag hat gleichzeitig die Funktion, die Beiträge des Bandes zu verorten und zu den folgenden Theorieaufsätzen überzuleiten.<br/>Der Aufsatz von Klaus Japp widmet sich der Systemtheorie. Im Mittelpunkt steht Niklas Luhmanns bereits 1965 erschienene, aber in der Menschenrechtsforschung wenig rezipierte Studie Grundrechte als Institution, die ausführlich vorgestellt wird. Obschon sich Luhmann nicht mit Menschenrechten, sondern mit Grundrechten in Deutschland beschäftigte, zeigt der Beitrag, dass das Buch zu Unrecht in Vergessenheit geriet. Anschlussfähig ist vor allem Luhmanns gesellschaftstheoretische These, dass die Grundrechte nicht nur die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit der Individuen sichern, sondern auch die gesellschaftlichen Funktionssysteme vor Übergriffen des politischen Systems bewahren. Für eine Soziologie der Menschenrechte besonders interessant - aber auch besonders vergessen - sind die vielen Bemerkungen zur Situation in Entwicklungsländern und zu den Barrieren, die in diesen Ländern die Entflechtung der Funktionssysteme blockieren und damit auch eine Verankerung der Grundrechte erschweren. Im zweiten Abschnitt befasst sich Klaus Japp mit der Frage, inwieweit sich Luhmanns gesellschaftstheoretische Erklärung der Grundrechte auch für eine Soziologie der Menschenrechte nutzen lässt. In seiner Antwort schließt er vor allem an den Zusammenhang zwischen der Generalisierung - oder wie Luhmann damals noch häufig schrieb: der "Zivilisierung" - von Verhaltenserwartungen und der Institutionalisierung von Grundrechten an. Unter Bezugnahme auf die Forschung zu failed states, ethnischen Konflikten und Exklusion in den Ländern des Südens argumentiert er, dass das westlich-liberale Regime partikulare Standards als universale Prinzipien setze, aber gleichzeitig deren Umsetzung in der Peripherie der Weltgesellschaft verhindere. Die von Luhmann bereits in seinem Grundrechtebuch beobachtete ungleiche Verteilung von Generalisierungschancen sind aus dieser Perspektive das Produkt westlicher Partikularinteressen, die sich hinter der universalen Sprache der Menschenrechte gut verbergen.<br/>Der Aufsatz von Matthias Koenig stellt mit dem Stanforder Neo-Institutionalismus eine ganz andere Sicht auf die Weltgesellschaft und ihre Menschenrechte vor. Der Beitrag vermittelt nicht nur einen dichten Überblick über die wichtigsten Theorielinien und Forschungsergebnisse, sondern verortet den Neo-Institutionalismus auch in einem breiteren Diskussionskontext. Die Bezugsfrage ist die, welche Perspektiven der Neo-Institutionalismus für eine historische Soziologie der Menschenrechte eröffnet. Matthias Koenig beschreibt zunächst das allgemeine Forschungsprogramm und arbeitet hier vor allem dessen kulturtheoretischen Kern heraus. Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Forschung zu Menschenrechten. Entlang von drei thematischen Schwerpunkten analysiert er, wie sich das neo-institutionalistische Verständnis der Menschenrechte im Laufe der Zeit verändert hat, mit welchen Konzepten die in den empirischen Studien festgestellte Diskrepanz zwischen weltkultureller Verankerung und nationaler Umsetzung erklärt und auf welche institutionellen und kulturellen Dynamiken die Entstehung und Entwicklung der Menschenrechte zurückgeführt wird. In einem abschließenden Abschnitt setzt er den Neo-Institutionalismus zu feldtheoretischen Ansätzen und zu Hans Joas' Soziologie der Menschenrechte in Bezug und lotet vor diesem Hintergrund die Grenzen, aber auch die Optionen aus, die der Neo-Institutionalismus einer historischen Soziologie der Menschenrechte anbieten könnte.<br/>Der Theorieteil wird abgeschlossen durch einen Beitrag von Mikael Rask Madsen zu der von Pierre Bourdieu inspirierten Theorie globaler Felder. Der Beitrag stellt zunächst den Bourdieuschen Begriffsrahmen vor und wendet ihn danach auf das europäische Menschenrechtssystem an. Im Anschluss an Bourdieus Konzept des "doppelten epistemologischen Bruchs" betont Mikael Rask Madsen die Notwendigkeit, einen genuin soziologischen Begriff der Menschenrechte zu entwickeln. Dazu brauche es eine Dekonstruktion und kritische Reflexion der politischen wie wissenschaftlichen Vorannahmen, die sich um den Begriff der Menschenrechte lagern, sowie eine Strukturtheorie, die eine solche Distanzierung erst möglich mache. Ähnlich wie der Beitrag von Matthias Koenig zielt auch Madsen auf eine historische Soziologie der Menschenrechte. Davon ausgehend entwickelt er eine Forschungsstrategie, die er von anderen Zugängen abgrenzt, insbesondere von Untersuchungen zu transnational advocacy networks und politisch-philosophischen Ansätzen. Welche Möglichkeiten diese Forschungsstrategie bietet, zeigt er am Beispiel seiner eigenen Arbeiten zur Formierung des juristischen Feldes und zur Entstehung des europäischen Menschenrechtssystems.<br/>Der zweite Teil des Bandes "Entwicklung und Bedeutungswandel der Menschenrechte" ist empirisch ausgerichtet. Im Anschluss an einen Überblick über die historische Forschung zu Menschenrechten werden fünf Fallstudien vorgestellt, die den in den theoretischen Beiträgen angesprochenen Themen konkrete Gestalt verleihen.<br/>Der Beitrag von Stefan-Ludwig Hoffmann führt in die Geschichte und Entwicklung der Menschenrechte ein und grenzt auf diese Weise das empirische Feld ab, in dem sich die empirischen Analysen bewegen. Das Bezugsproblem, an dem er seine Darstellung orientiert, ist die Frage, welche Faktoren daran beteiligt waren, dass Menschenrechte zur "Doxa unserer Zeit" wurden. Der Fokus liegt zwar auf der Geschichte der Menschenrechte nach 1945, diesen Ausführungen ist aber ein Abschnitt vorangestellt, der die Entwicklung der Menschenrechte - und teilweise auch ihren Stillstand - vom späten 18. Jahrhundert bis nach dem Zweiten Weltkrieg umreißt. Stefan-Ludwig Hoffmann zeigt in diesem Abschnitt auf, wie und weshalb die in den frühen Menschenrechtserklärungen emphatisch beschworenen Menschenrechte aus dem politischen Diskurs verschwanden oder höchstens noch in Gestalt von "Staatsbürgerrechten" auftraten. Das änderte sich erst Ende des Zweiten Weltkrieges und kulminierte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Dass damit aber nicht ein automatischer Progress in Sachen Menschenrechte einsetzte, zeigt der Beitrag im zweiten Abschnitt, in dem die Faktoren benannt werden, die die Entwicklung vorantrieben, sie teilweise aber auch bremsten: die Konstellation des Kalten Krieges, die Dekolonialisierung, der neue Humanitarismus und der Zerfall des Kommunismus.<br/>Die daran anschließenden empirischen Fallstudien beginnen mit einem Aufsatz von Ulrike Davy zur Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Anhand einer detaillierten Auswertung der Sitzungsprotokolle der vorbereitenden Menschenrechtskommission, des Wirtschafts- und Sozialrats (ECOSOC) und der UN-Generalversammlung argumentiert sie, dass die gängige Interpretation der AEMR als ein wertuniversales Dokument ein "Mythos" sei: Die erfolgte Einigung auf den Text sei in Tat und Wahrheit eine Geschichte der Nichteinigung auf Inhalte gewesen. Die These, dass die Verabschiedung der AEMR nur mithilfe einer inhaltlichen Ausdünnung und deutungsoffener Formulierungen erreicht werden konnte, wird im Beitrag an vier Rechtskomplexen im Detail aufgezeigt: den Gleichheitsnormen, dem Sklavereiverbot, den Sozialrechten und dem Eigentumsrecht. Die Analyse macht deutlich, dass viele Menschenrechte der AEMR nur deswegen als "universelle" Rechte festgeschrieben werden konnten, weil sie in einer Sprache formuliert waren, die eine partikularistische Auslegung zuließen. Daraus zieht Ulrike Davy den Schluss, dass pauschale Aussagen über den Universalismus der Menschenrechte unzulässig sind. Stattdessen sei für jedes einzelne Recht gesondert zu prüfen, ob es in einem strengen Sinne universalistisch sei.<br/>Der Beitrag von Bettina Heintz, Hannah Bennani und Marion Müller setzt 20 Jahre später ein. Er untersucht anhand einer Inhaltsanalyse der Vorbereitungs- und Abschlussdokumente der UN-Menschenrechtskonferenzen 1968 in Teheran und 1993 in Wien, wie sich das politische Verständnis der Menschenrechte im Laufe dieser 25 Jahre veränderte. Die beiden Konferenzen werden dabei nicht als isolierte und kontextunabhängige Ereignisse betrachtet, sondern vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen Diskurse interpretiert. Die Ergebnisse belegen einen deutlichen Wandel in der Auffassung der Menschenrechte: Während in Teheran der Staat und die "Völker" als werdende Staaten die zentralen Referenzfiguren sind und die "Einheit" der Menschheit - und nicht die "Würde" des Einzelnen - als gefährdet ansehen wird, rückt in Wien der "Mensch" der Menschenrechte in den Mittelpunkt und dessen nun als Gattungsmerkmal begriffene Würde. Hintergrund dieser Verschiebung ist ein Wandel der Problemwahrnehmungen und Interpretationsmodelle: In Teheran sind (Neo-)Kolonialismus und Entwicklung die vorherrschenden Themen, die beide als weltgesellschaftliches Strukturproblem interpretiert werden. In Wien werden Entwicklungsbarrieren dagegen in den Strukturdefiziten der einzelnen Länder verortet und die Herausforderung besteht nun darin, die Universalität der Menschenrechte gegen kulturrelativistische Argumente zu verteidigen. Der Beitrag interpretiert diese Unterschiede in der Formulierung der Menschenrechte als Ausdruck einer tieferreichenden Veränderung der globalen politischen Semantik: die Beobachtung globaler Strukturprobleme wird durch eine Weltsicht überlagert oder sogar teilweise abgelöst, die kulturelle und religiöse Unterschiede ins Zentrum des Beobachtungsfeldes rückt und das Individuum zum weltgesellschaftlichen Hauptakteur erklärt.<br/>Theresa Wobbe wendet sich in ihrem Beitrag der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und damit einer Organisation zu, die in der Menschenrechtsforschung bisher eher am Rande stand. Im Mittelpunkt ihres Beitrags steht die Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen Arbeitsrechte zu universellen Rechten wurden, die für alle Menschen gelten und nicht nur für die (männlichen) Industriearbeiter in Europa. Ausgangspunkt der empirischen Analyse ist die Annahme, dass das Globalwerden der Arbeitsrechte Vergleichbarkeit voraussetzt: Erst als die Gemeinsamkeiten zwischen den Arbeitnehmern der europäischen und außereuropäischen Länder als wichtiger erachtet wurden als ihre Unterschiede, konnten sie als universelle Rechte gedacht werden. Diese Annahme überprüft Theresa Wobbe zum einen anhand der Debatten um den sogenannten Native Labor Code und der Zwangsarbeit in den Kolonien und zum andern an den Ende der 1930er Jahre einsetzenden Diskussionen um das Konzept des Lebensstandards, das bereits eine graduelle Vergleichbarkeit zwischen allen Menschen unterstellte. Die ILO-Erklärung von Philadelphia von 1944, die von dieser selbst als "world charter of social rights for the peoples of all countries" (unsere Hervorhebung) bezeichnet wurde, war ein entscheidender Schritt in diesem Globalwerden der Arbeitsrechte.<br/>Im Mittelpunkt des Beitrags von Hannah Bennani steht die Frage, wie indigene Völker trotz der dominanten individualrechtlichen Auslegung der Menschenrechte zu Trägern kollektiver Rechte werden konnten. Sie argumentiert, dass eine Antwort zwischen zwei Prozessen unterscheiden muss: zwischen der Institutionalisierung einer globalen Kategorie der Indigenen, die es erst möglich machte, die disparaten und weltweit verstreuten Völker bzw. Kulturen unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen, und der Herausbildung spezifischer Rechtserwartungen, die mit dieser kategorialen Mitgliedschaft verbunden wurden. In einem ersten Abschnitt legt Hannah Bennani die wissenssoziologischen Grundlagen dar, die die empirische Analyse anleiten. Im Vordergrund steht die Frage, auf welche Weise Personen kategorisiert und wie diese solchermaßen konstruierten Kategorien zu menschenrechtlichen Erwartungen in Bezug gesetzt werden können. Diese Überlegungen werden im zweiten empirischen Abschnitt auf die Entstehung von Indigenenrechten übertragen. Der Beitrag zeigt, dass die Kategorie der Indigenen zunächst eine Fremdbeschreibung war, die im Umfeld der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in den 1950er Jahren entstand. Erst im indigenen Aktivismus der 1970er Jahre wurde "indigen" zu einer positiv konnotierten Selbstkategorisierung, allerdings mit nur marginalen menschenrechtlichen Bezügen. Diese gewannen erst in einer zweiten Phase an Bedeutung, nun vor allem im Kontext der Vereinten Nationen. Die 2007 verabschiedete UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, in der die indigenen Völker als Kollektiv mit eigenen Rechten behandelt werden, ist der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung.<br/>Der Band wird durch einen Beitrag von Britta Leisering abgeschlossen. Er behandelt die bisher wenig beachtete Frage der eingeschränkten räumlichen Geltung der Menschenrechte. Britta Leisering zeigt zunächst, dass die Anwendbarkeit der internationalen Menschenrechte in extraterritorialen Räumen, d.h. außerhalb des Staatsgebietes, juristisch umstritten ist. Das bekannteste Beispiel ist das US-amerikanische Gefangenenlager Guantánamo Bay auf Kuba, doch auch in internationalen Transitzonen in Flughäfen sowie auf der Hohen See wird die universelle Geltung der Menschenrechte nicht anerkannt. Anhand einer empirischen Studie zu Grenzkontrollen auf der Hohen See des Mittelmeers belegt sie jedoch, dass seit einiger Zeit auch Tendenzen zugunsten einer "räumlichen Universalisierung" der Menschenrechte festzustellen sind. Diese Entwicklung ist eine Reaktion darauf, dass Regierungen ihre politische Amtsgewalt an Orte jenseits des Staatsgebietes auslagern. Ausschlaggebend für die Tendenz zu einer auch räumlichen Universalisierung sind "staatsferne Rechtsprozesse": Unter Bezugnahme auf bestehende Menschenrechtsverträge kommt es im Zusammenspiel von internationalen Gerichten und menschenrechtlichen Kontrollgremien mit NGOs und Rechtsexperten zur schrittweisen Institutionalisierung der "extraterritorialen Geltung" der Menschenrechte. Diese Strukturveränderung im internationalen Menschenrecht, welche auf einem interpretativen Wandel bestehenden Rechts beruht, setzt sich nur langsam und schrittweise durch, ist jedoch von einmaliger Bedeutung, da sie mit dem klassischen völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip bricht und das Menschenrecht von staatsräumlichen Bezügen löst.<br/>Die zehn Beiträge bringen auf unterschiedliche Weise die eingangs beschriebene Ausrichtung des Bandes zum Ausdruck: die weltgesellschaftliche Verortung der Menschenrechte, das Anliegen, zu einer soziologischen Theorie der Menschenrechte beizutragen, und seine inhaltliche Fokussierung auf die Entstehung und den Bedeutungswandel global konsentierter Menschenrechte.<br/>Zur Vorbereitung des Bandes wurde ein zweitägiger Workshop durchgeführt, der im Januar 2013 an der Universität Bielefeld stattfand und auf dem Kurzfassungen der geplanten Aufsätze intensiv diskutiert wurden. Das Institut für Weltgesellschaft der Fakultät für Soziologie hat uns dafür die finanziellen Mittel bereitgestellt. Wir danken dem Institut für seine Unterstützung. Danken möchten wir auch Marta Waser für ihre Hilfe bei der Fertigstellung des Bandes. Unser besonderer Dank gilt Sophia Cramer, die mit Adleraugen und soziologischem Sachverstand alle Beiträge genau durchgesehen und uns und einige Autoren noch auf einige Unaufmerksamkeiten hingewiesen hat.<br/>
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