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Wessen Stimme zählt?

eBook - Soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Schriften aus dem MPI für Gesellschaftsforschung
ISBN/EAN: 9783593440514
Umbreit-Nr.: 5569543

Sprache: Deutsch
Umfang: 218 S., 3.50 MB
Format in cm:
Einband: Keine Angabe

Erschienen am 08.11.2018
Auflage: 1/2018


E-Book
Format: PDF
DRM: Digitales Wasserzeichen
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  • Zusatztext
    • Wie steht es um die politische Gleichheit in Gesellschaften, in denen Einkommen immer weiter auseinanderdriften und die Armen sich kaum noch politisch beteiligen? Wessen Stimme findet Gehör? Mit einer umfassenden empirischen Untersuchung politischer Repräsentation in Deutschland zeigt die Autorin, dass die Entscheidungen des Deutschen Bundestages seit den 1980er-Jahren systematisch zugunsten oberer Berufs- und Einkommensgruppen verzerrt sind. In der Folge wird nicht nur das Gleichheitsversprechen der Demokratie verletzt, sondern es werden auch vermehrt Entscheidungen getroffen, die ökonomische Ungleichheit tendenziell verschärfen.

  • Kurztext
    • Wie steht es um die politische Gleichheit in Gesellschaften, in denen Einkommen immer weiter auseinanderdriften und die Armen sich kaum noch politisch beteiligen? Wessen Stimme findet Gehör? Mit einer umfassenden empirischen Untersuchung politischer Repräsentation in Deutschland zeigt die Autorin, dass die Entscheidungen des Deutschen Bundestages seit den 1980er-Jahren systematisch zugunsten oberer Berufs- und Einkommensgruppen verzerrt sind. In der Folge wird nicht nur das Gleichheitsversprechen der Demokratie verletzt, sondern es werden auch vermehrt Entscheidungen getroffen, die ökonomische Ungleichheit tendenziell verschärfen.

  • Autorenportrait
    • Lea Elsässer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen.
  • Leseprobe
    • VorwortFragt man Menschen in Deutschland, ob sie glauben, dass ihre Stimme im politischen Prozess zählt, fällt die Antwort gemischt aus - vor allem aber hängt sie davon ab, wie es um die soziale und ökonomische Situation der Befragten bestellt ist. Während im unteren Einkommensfünftel fast 40 Prozent starke Zustimmung zu der Aussage äußern, keinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen zu haben, sind es bei den Angehörigen der oberen Mittelschicht nur ungefähr 13 Prozent (ALLBUS 2016). Das in weniger privilegierten Gesellschaftsschichten verbreitete Gefühl der politischen Einflusslosigkeit findet seinen Ausdruck auch in der zunehmenden Wahlenthaltung dieser Bürgerinnen und Bürger. Ausgehend von diesen Beobachtungen habe ich mich in den letzten Jahren mit der Frage auseinandergesetzt, wie soziale Ungleichheit und politische Repräsentation in Deutschland zusammenhängen. Auf Basis meiner Untersuchung argumentiere ich in den folgenden Kapiteln, dass die verbreitete Einschätzung in unteren Berufs- und Einkommensgruppen, mit den eigenen politischen Anliegen weniger Gehör zu finden, nicht unbegründet ist - was nicht nur die Legitimität der Demokratie gefährdet, sondern auch gravierende Folgen für die inhaltliche Ausrichtung der Politik hat.Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die größtenteils am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln entstanden ist. Als ich im Herbst 2011 als studentische Hilfskraft zum ersten Mal meinen Fuß in das Institut setzte, konnte ich noch nicht ahnen, dass ich es erst sechs Jahre später - mit einer fertigen Dissertation in den Händen - wieder verlassen würde. Noch weniger aber ahnte ich damals, wie sehr mich die Menschen, denen ich im Laufe der Zeit an diesem Institut begegnet bin, in meinem wissenschaftlichen Denken und Werdegang prägen würden. Dass ich von meinem Studienfach der Volkswirtschaftslehre, in der ich mich nie wirklich zuhause gefühlt habe, schließlich zur politischen Ökonomie gekommen bin, ist sicherlich diesen bedeutenden Jahren geschuldet. Mein besonderer Dank gilt deshalb Wolfgang Streeck, der mir in den ersten drei Jahren am Institut viel Vertrauen und Unterstützung geschenkt und mich ermutigt hat, diesen Weg einzuschlagen. Dass ich auch während meiner Promotionszeit am MPIfG angegliedert bleiben durfte, ist Ergebnis der großzügigen Unterstützung von Jens Beckert.Mein größter Dank gilt Armin Schäfer, der nicht nur diese Dissertation hervorragend betreut hat, sondern auch darüber hinaus ein wichtiger Austauschpartner geworden ist. Seine ansteckende Begeisterung und die Überzeugung, mit wissenschaftlicher Arbeit auch Gesellschaft verändern zu können, haben mich nicht nur in der Dissertationsphase immer wieder motiviert, sondern werden mir auch in Zukunft weiter Vorbild sein. Silja Häusermann, die das Zweitgutachten erstellt hat, hat der Arbeit viel Aufmerksamkeit und Zeit geschenkt - die Überarbeitung des Manuskripts hat stark von ihren scharfsinnigen Anmerkungen und Verbesserungsvorschlägen profitiert.Zum Gelingen der Dissertation haben zweifellos die vielen tollen Kolleginnen und Kollegen am MPIfG beigetragen, die in den richtigen Momenten ein offenes Ohr, eine gute Idee, motivierende Worte oder einfach nur die Zeit für eine gemeinsame Arbeitspause hatten - insbesondere Timur Ergen, Jiska Gojowcyk, Lukas Haffert, Annina Hering, Martin Höpner, Marina Hübner, Daniel Mertens, Inga Rademacher und Martin Seeliger. Das Gleiche gilt für die Kolleginnen und Kollegen in den Servicegruppen, die durch ihre professionelle Arbeit am MPIfG ein Forschungsumfeld schaffen, das seinesgleichen sucht. Besonderer Dank gebührt zudem meiner Osnabrücker Kollegin Svenja Hense, die mir nicht nur mit großem Einsatz und Zuverlässigkeit bei der Erstellung der Daten geholfen hat, sondern auch darüber hinaus eine wichtige Wegbegleiterin war. Schließlich habe ich mich sehr über die Unterstützung derjenigen gefreut, die in der Endphase der Dissertation einzelne Kapitel der Arbeit durchgearbeitet und mit hilfreichen Verbesserungsvorschlägen versehen haben: Julian Bank, Max Bank, Timur Ergen, Jiska Gojowczyk, Lukas Haffert, Svenja Hense und Annina Hering - vielen Dank! Schließlich möchte ich mich bei all den wichtigen Menschen außerhalb der Wissenschaft bedanken, die während der letzten Jahre - bewusst oder unbewusst - dabei geholfen haben, neben dem Schreiben alles andere Wichtige nicht zu kurz kommen zu lassen. Mein größter Dank gilt hier Max Bank, der mich vor allem am Ende der Promotionszeit so unermüdlich und liebevoll begleitet hat, wie man es sich wohl nur wünschen kann.Ich widme dieses Buch meinen Eltern, denn sie sind ohne Zweifel meine langjährigsten Unterstützer.Köln, im August 2018 Lea Elsässer?Kapitel 1EinleitungDer Slogan der britischen Labour-Partei, mit dem die Sozialdemokraten unter Jeremy Corbyn 2017 in den Wahlkampf zogen, war so simpel wie einprägsam: for the many, not the few. Politik für die vielen, nicht nur für wenige - die zentrale Botschaft dieser Wahlkampagne barg das Versprechen, die ökonomischen und sozialen Interessen der unteren und mittleren gesellschaftlichen Schichten wieder verstärkt in den Mittelpunkt zu rücken, die Austeritätspolitik der Vorgängerregierungen zu beenden und sich für mehr Umverteilung und eine (Rück-)Verstaatlichung zentraler Dienstleistungen einzusetzen (Labour Party 2017). Gleichzeitig knüpfte das Wahlkampfmotto bewusst an das verbreitete Gefühl vieler Menschen an, von der Politik und ihren Institutionen nicht mehr repräsentiert zu werden, sondern von Parteien regiert zu sein, die vor allem im Sinne der ökonomisch Privilegierten entscheiden. Entgegen der anfänglichen Erwartung vieler, auch aus der Führungsriege der eigenen Partei, erzielte Corbyn mit seiner Kampagne einen großen Erfolg und konnte die Anzahl der Sitze im britischen Unterhaus deutlich ausbauen.Dass Politik nur für "die wenigen" gemacht wird, ist eine weit über Großbritannien hinaus verbreitete Einschätzung - vor allem in unteren sozialen Gesellschaftsschichten. Das Misstrauen gegenüber Politikern und Parteien ist in unteren Einkommensgruppen besonders groß; gleichzeitig ist der Glaube daran klein, mit der eigenen Beteiligung Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können (Merkel 2015; Schäfer 2015, 109). Und diejenigen, die das Vertrauen in die Politik größtenteils verloren haben, beteiligen sich auch immer weniger am politischen Prozess. So ist in den letzten Jahrzehnten in den meisten OECD-Demokratien eine starke soziale Spaltung in der Wahlteilnahme und anderen politischen Partizipationsformen zu beobachten (Schäfer 2015; Solt 2008). Im Zuge der ansteigenden ökonomischen Ungleichheit haben sich sozial Benachteiligte, prekär Beschäftigte, Geringverdienende und Arbeitslose vielerorts von der Politik abgewendet.Anknüpfend an diese Befunde zeigt die vorliegende Arbeit am Beispiel Deutschlands, dass die Einschätzung vieler Menschen, in der Politik kein Gehör zu finden, eine empirisch belastbare Grundlage hat. In einer umfassenden Untersuchung der politischen Repräsentation in Deutschland gehe ich der Frage nach, ob und durch welche Mechanismen sich die Präferenzen oberer sozialer Klassen stärker in den politischen Entscheidungen des Deutschen Bundestages widerspiegeln als die der sozial Benachteiligten und welche ökonomischen und politischen Konsequenzen dies nach sich zieht. Damit trägt die Studie zu der größeren sozialwissenschaftlichen Debatte um die politischen Auswirkungen steigender sozialer Ungleichheit in westlichen Demokratien bei.1.1 Politische Folgen sozialer UngleichheitDas der Demokratie zugrunde liegende Gleichheitsprinzip verlangt, dass die Anliegen aller Mitglieder die gleiche Chance haben, im politischen Prozess berücksichtigt zu werden - ungeachtet der Unterschiede zwischen ihnen. Liberale Demokratien sind deshalb einer ständigen Spannung ausgesetzt, denn sie produzieren aufgrund ihrer kapitalistischen Verfasstheit notwendigerweise sozioökonomische Ungleichheiten, die aber nicht dazu führen dürfen, dass politische Einflusschancen an ökonomische Ressourcen gebunden sind. So besteht immer die Gefahr, dass durch ungleich verteilte Ressourcen eine Kumulation von Einkommen und Vermögen möglich wird, welche die demokratische Entscheidungsfindung in der politischen Sphäre verzerrt und damit die Legitimität der Demokratie untergräbt (Kocka und Merkel 2015, 318). Mit ansteigender ökonomischer Ungleichheit gewinnt die Frage nach ungleichen Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten somit an Bedeutung.Seit Beginn der 1980er-Jahre hat die Einkommens- und Vermögensungleichheit in vielen OECD-Demokratien stetig zugenommen (Piketty 2014). Dabei ist nicht nur die personelle Einkommensverteilung immer ungleicher geworden, sondern auch die funktionale Verteilung hat sich in vielen Staaten zugunsten der Kapitaleinkommen verschoben (Stockhammer 2009, 3). Gleichzeitig ging der Anstieg der Einkommensun-gleichheit, insbesondere in angelsächsischen Ländern, mit einer starken Konzentration der Spitzeneinkommen einher (Alvaredo et al. 2013). Neben dieser Verschärfung ungleicher Ressourcenverteilungen zeigen weitere Indikatoren, dass auch Unsicherheiten und Ungleichheiten am Arbeitsmarkt zugenommen haben. Dies ist unter anderem auf den gemeinsamen Liberalisierungstrend zurückzuführen, den die meisten OECD-Staaten - trotz ihrer unterschiedlichen institutionellen Voraussetzungen - in den letzten dreißig bis vierzig Jahren durchlaufen haben (Höpner et al. 2011). Die "politische Durchsetzung von Marktprinzipien" (Höpner et al. 2011, 3) hatte in vielen Staaten beispielsweise eine Lockerung des Kündigungsschutzes für ohnehin befristet Beschäftigte und eine Kürzung der Lohnersatzraten zur Folge (Schäfer 2015, Kapitel 3).Auch in Deutschland, das im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, sind diese Entwicklungen zu beobachten (Fratzscher 2016; Streeck 2009). Hier fand neben dem Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 1990er-Jahren auch eine starke Dualisierung des Arbeitsmarktes statt (Hassel 2014, 66-70; Thelen 2014). Nachtwey (2016) bezeichnete Deutschland jüngst als "Abstiegsgesellschaft", in der nicht nur die Einkommen immer weiter auseinanderdriften, sondern auch die sozialen Aufstiegschancen unterer und mittlerer sozialer Klassen systematisch abgenommen haben. Gleichzeitig steigen die durch den Arbeitsmarkt vermittelten Ungleichheiten, was sich unter anderem in einer starken Lohnspreizung (C. Bartels 2018; Fratzscher 2016, 52-59) und einer zunehmenden Prekarisierung niederschlägt, mit der Konsequenz, dass vor allem untere Berufsgruppen sozial und ökonomisch marginalisiert werden (Nachtwey 2016, Kapitel 4). So sind nicht nur die ökonomischen Ressourcen ungleicher verteilt, sondern die Gesellschaft ist auch sozial weniger durchlässig als noch vor dreißig Jahren, was die Verteilung von Einkommen und Lebenschancen stärker festschreibt.Angesichts dieser politökonomischen Entwicklungen ist in den letzten Jahren vermehrt die Frage nach den politischen Auswirkungen sozialer Ungleichheit in den Vordergrund sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt. Einer der wichtigsten und länderübergreifenden Befunde bisheriger Arbeiten ist, dass die steigende ökonomische Ungleichheit zu politischer Apathie und der Abnahme von politischer Partizipation führt - insbesondere in sozial schlechtergestellten Schichten (Schäfer 2015; Schlozman, Verba und Brady 2012; Solt 2008). Insgesamt geht die Wahlbeteiligung in Ländern mit ungleicher Einkommensverteilung stärker zurück, gleichzeitig aber in unterschiedlichem Maß in verschiedenen sozialen Gruppen. Menschen aus unteren Einkommens-, Berufs- oder Bildungsgruppen wenden sich stärker von der Politik ab als die ökonomisch Begünstigten, sodass in der Folge eine soziale Spreizung in der Wahlteilnahme entsteht (Armingeon und Schädel 2015; Schäfer 2015, Kapitel 4). Mit ansteigender Ungleichheit hat diese soziale Schieflage in der Partizipation zugenommen, wobei sie nicht nur auf die konventionelle Partizipationsform der Wahl beschränkt ist. Andere Beteiligungsformen, wie die Teilnahme an Demonstrationen oder der Kontakt zu Politikerinnen und Politikern, sind sogar noch stärker sozial verzerrt (Bödeker 2012; Schäfer 2015; Schlozman, Verba und Brady 2012), auch weil diese Beteiligungsformen mehr Ressourcen voraussetzen. Es lässt sich somit länderübergreifend beobachten, dass ökonomische Ungleichheit die politische Beteiligung sozial Benachteiligter dämpft und davon ausgegangen werden kann, dass diese sich aus Resignation abwenden. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass das Vertrauen in politische Institutionen und die Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie ebenfalls in ungleichen Gesellschaften geringer und sozial verzerrt ist: Je geringer die eigenen ökonomischen Ressourcen, desto geringer ist auch das politische Vertrauen (Schäfer 2010). Wie bereits zu Anfang des Kapitels erwähnt wurde, gilt das Gleiche auch für die Wahrnehmung, von der Politik nicht beachtet zu werden beziehungsweise keinen Einfluss auf politische Entscheidungen zu haben.Die weniger Begünstigten hören also zunehmend auf, ihre Stimme im politischen Prozess verlauten zu lassen. Parallel zu diesem Entwicklungstrend verlieren kollektive Organisationen, die traditionell die Interessen und Anliegen unterer sozialer Klassen mobilisiert und in den politischen Prozess getragen haben, an Mitgliedern und an Organisationskraft (Merkel 2015, 190-91). Dies gilt insbesondere für Gewerkschaften, die maßgeblich als Transmissionsriemen zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen und politischen Parteien fungierten, aber in allen westlichen Demokratien seit Jahrzehnten an Mitgliederstärke verlieren (Streeck 2013). Vor allem die jüngeren Generationen sind heute kaum noch kollektiv organisiert (Hassel 2015). Dagegen werden Parteien sozial immer homogener - sie sind heute oftmals ein "Tummelplatz von nach ihrer Bildung und sozia­len Stellung besonders ressourcenstarken Bürgerinnen und Bürgern" (Wiesendahl 2017, 415). Während Arbeiterinnen und Arbeiter stark unterrepräsentiert sind, sind es Menschen aus oberen Einkommensgruppen, Akademiker und/oder Beamte und Beamtinnen, die einen Großteil der Parteimitglieder stellen (Schäfer 2015, 178-79; Wiesendahl 2017). Dies schlägt sich auch in der Zusammensetzung der Parlamente nieder: Während der Anteil der Abgeordneten aus der Arbeiterklasse schon immer gering war und in den letzten Jahrzehnten weiter abgenommen hat, dominieren vor allem Akademiker und Einkommensreiche die legislativen Organe (Best 2007; Carnes 2012).Zusammenfassend ist somit eine Abkehr unterer sozialer Klassen von der Politik bei gleichzeitiger Erosion ihrer traditionellen "Sprachrohre" zu beobachten. Daraus ergibt sich die Frage, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf die politische Repräsentation der sozial weniger Privilegierten haben. Verschiedene Autorinnen und Autoren sind der Ansicht, dass die politische Ungleichheit in der Partizipation die Gefahr birgt, dass die politischen Anliegen und Präferenzen derjenigen, die nicht mehr partizipieren, von den politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern übergangen werden (Schäfer 2013; Schlozman, Verba und Brady 2012) - nicht selten wird deshalb von einer "Krise der Repräsentation" gesprochen (Deppe 2013, 126). Ob die beschriebenen Ent­wicklungen aber wirklich zur Folge haben, dass die politischen Präferenzen unterer sozialer Gruppen weniger oder gar nicht beachtet werden, ist bislang nur unzureichend empirisch erforscht. Einige Studien zeigen zwar, dass bei einer höheren Wahlbeteiligung auch die Staatsausgaben höher und der Sozialstaat stärker ausgebaut sind (Aggeborn 2016; Fumagalli und Narciso 2012; Hillen 2017), diese Ergebnisse sind aber umstritten (Hoffman, León und Lombardi 2017). Zudem kann mit diesen Studien nicht nachvollzogen werden, ob die Ergebnisse tatsächlich dadurch zustande kommen, dass die Interessen der Nichtwählerinnen und Nichtwähler übergangen werden, da der konkrete Zusammenhang zwischen ihren Präferenzen und den politischen Entscheidungen nicht betrachtet wird.In den USA ist die Debatte zum Zusammenhng von sozialer Ungleichheit und politischer Repräsentation weiter fortgeschritten. Hier sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Studien entstanden, die empirisch der Frage nachgehen, ob die politischen Präferenzen der Einkommensstarken sich stärker in Gesetzesentscheidungen und dem Abstimmungsverhalten von Abgeordneten widerspiegeln als die von mittleren und unteren Einkommensgruppen (L. M. Bartels 2008; Flavin 2012; Gilens 2012). Der Großteil dieser Studien kommt zu dem Schluss, dass die amerikanische Politik selektiv responsiv zugunsten der Einkommensstarken ist: Wenn sich die Präferenzen der unteren und mittleren Einkommensgruppen von denen der oberen Einkommensgruppen unterscheiden, dann folgen die politischen Entscheidungen den Einkommensstarken, während kein systematischer Zusammenhang zwischen den Anliegen der Armen und den verabschiedeten Gesetzesänderungen feststellbar ist (Gilens 2012). In Anbetracht dieser klaren sozialen Schieflage in der politischen Repräsentation argumentieren einige Autorinnen und Autoren, dass zwar die demokratischen Institutionen formal noch in Takt sind, aber eine substanzielle Erosion der amerikanischen Demokratie stattfinde (Gilens und Page 2014).Die Befunde in den USA haben eine weitreichende Debatte zu den politischen Folgen sozialer Ungleichheit ausgelöst, die aber - zumindest innerhalb der amerikanischen Politikwissenschaft - zu großen Teilen auf die USA beschränkt geblieben ist. Dabei scheint die Auffassung verbreitet, es würde sich bei den Befunden um eine Art American Exceptionalism handeln, was sich nicht zuletzt dadurch zeigt, dass viele der in der Literatur diskutierten Erklärungsansätze sich auf die spezifische Ausgestaltung des US-amerikanischen Systems beziehen (L. M. Bartels 2008; Gilens 2012; Hacker und Pierson 2010). Vor allem die große Rolle der privaten Wahlkampf- und Parteienfinanzierung und die damit einhergehende Abhängigkeit von (Groß-)Spenden wird von vielen Autoren als ausschlaggebender Faktor für die selektive politische Responsivität gegenüber besonders wohlhabenden Wählerinnen und Wählern gesehen (Gilens 2015a; Lessig 2011).Da sich die anderen mit sozialer Ungleichheit assoziierten Krisenphänomene aber keineswegs nur in den USA beobachten lassen, drängt sich die Frage auf, ob eine ähnliche Ungleichheit in der politischen Repräsentation auch in anderen reichen Demokratien zu finden ist. Eng damit verknüpft ist die Frage, welche Mechanismen für eine solche Ungleichheit verantwortlich sein können. Im europäischen Kontext hat die Diskussion um ungleiche politische Responsivität zwar in den letzten Jahren ebenfalls an Bedeutung gewonnen. Bisherige Studien untersuchen aber vornehmlich die Einstellungskongruenz zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Politikern (Adams und Ezrow 2009; Giger, Rosset und Bernauer 2012) oder das Verhältnis zwischen Präferenzen und Politikergebnissen auf der Makroebene (Enns 2015), nicht aber den Zusammenhang zwischen politischen Präferenzen und den konkreten, von der Politik getroffenen Entscheidungen. Ein Vergleich zu den amerikanischen Befunden, der empirisch abgesicherte Aussagen zur Existenz und zum Ausmaß ungleicher politischer Repräsentation im europäischen Kontext erlaubt, ist deshalb bisher nicht möglich gewesen.Mit einer umfassenden empirischen Studie zur politischen Repräsentation in Deutschland möchte die vorliegende Arbeit dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schließen. Deutschland eignet sich gut als Vergleichsfall zu den USA, da es erstens eine der größten parlamentarischen Demokratien in Europa und zweitens in verschiedener Hinsicht egalitärer ist als die USA. Zwar hat auch hier die Einkommensungleichheit in den letzten Jahrzehnten zugenommen, aber die Einkommenskonzentration bei den Spitzeneinkommen ist weniger ausgeprägt (Alvaredo et al. 2013). Gleichzeitig unterscheidet sich Deutschland in seiner institutionellen Ausgestaltung stark von den USA, beispielsweise durch eine vornehmlich öffentliche Wahl- und Parteienfinanzierung und eine stärkere politische Verankerung der Gewerkschaften (Hassel 2015; Woll 2016). Wenn ungleiche Repräsentation trotz dieser institutionellen Unterschiede auch in Deutschland zu finden ist, dann deutet dies darauf hin, dass es sich hier um eine weitere länderübergreifende Krisentendenz gegenwärtiger Demokratien handelt. Gleichzeitig kann ein deutsch-amerikanischer Vergleich dazu beitragen, das Verständnis potenzieller Ursachen ungleicher Repräsentation zu erweitern und die Erklärungsansätze zu überprüfen, die sich auf die spezifische Ausgestaltung des amerikanischen Systems beziehen.In der vorliegenden Untersuchung werden verschiedene, aufeinander aufbauende Forschungsfragen adressiert, um ein möglichst umfassendes Bild über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und politischer Repräsentation in Deutschland zu erhalten. So gehe ich erstens der Frage nach, ob die politischen Entscheidungen des Deutschen Bundestages zugunsten oberer sozialer Klassen verzerrt sind. Dafür werden zunächst die Präferenzen oberer und unterer sozialer Klassen näher betrachtet, da es nur Spielraum für die unterschiedliche Berücksichtigung sozialer Gruppen gibt, wenn diese sich substanziell in ihren Anliegen unterscheiden. Die Untersuchung erfolgt mithilfe einer für dieses Projekt selbst erstellten Datenbank, die mehr als 700 Sachfragen mit Vorschlägen zu konkreten Politikänderungen enthält. Das Untersuchungsdesign ist eng an die Arbeit von Gilens (2012; 2005) angelehnt, da so der Zusammenhang zwischen den Präferenzen einzelner Gruppen und den entsprechenden politischen Entscheidungen gut erfasst werden kann.Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre von 1980 bis 2013 und lässt somit die Analyse von Veränderungen im Zeitverlauf zu. In weiterführenden Analysen kann untersucht werden, ob ein Wandel im Zeitverlauf feststellbar ist und ob selektive Responsivität zugunsten oberer sozialer Klassen unter bestimmten Regierungskoalitionen stärker beziehungsweise schwächer ausgeprägt ist. Mithilfe einer separaten Betrachtung verschiedener Politikbereiche kann ich zudem der Frage nachgehen, ob Unterschiede zwischen verschiedenen Politikfeldern feststellbar sind. Die Beantwortung dieser Fragen gibt Aufschluss über das Ausmaß selektiver Responsivität in Deutschland und lässt - insbesondere im Vergleich zu den amerikanischen Befunden - auch Schlussfolgerungen zur Plausibilität potenzieller Ursachen zu.Aufbauend auf dem Befund, dass es auch in Deutschland eine deutliche soziale Schieflage in der politischen Repräsentation gibt, stehen daran anschließend die ökonomischen und politischen Auswirkungen ungleicher Responsivität im Vordergrund. In Bezug auf potenzielle Auswirkungen stellt sich die Frage, ob Ungleichheit in der politischen Repräsentation auch eine weitere Verschärfung ökonomischer Ungleichheit nach sich zieht. Hierzu wird die Reformentwicklung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eingehender untersucht, da diese Bereiche zentrale Handlungsfelder des Staates zur Reduzierung ökonomischer Ungleichheit sind. Eine gesonderte und detaillierte Responsivitätsanalyse der großen Reformen in der Arbeitsmarkt-, Renten- und Familienpolitik kann so zur Beantwortung der Frage beitragen, ob selektive Responsivität in diesen Politikfeldern zu politischen Entscheidungen führt, die ökonomische Ungleichheit weiter verschärfen. Die wohlfahrtsstaatliche Reformentwicklung im Untersuchungszeitraum war durch einen verstärkten Fokus auf Arbeitsmarktaktivierung bei gleichzeitigem Rückbau von sozialen Sicherungssystemen charakterisiert. Die Analyse lässt deshalb auch Schlussfolgerungen darüber zu, ob ungleiche politische Repräsentation möglicherweise eine Ursache dieses wohlfahrtsstaatlichen Wandels ist. Somit erweitert die Arbeit nicht nur das Verständnis von den Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf politische Repräsentation, sondern knüpft auch an Studien aus der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung an, die der Frage nachgehen, wodurch der in vielen Ländern beobachtete Umbau zu einem "aktivierenden" Sozialstaat verursacht ist. Damit geht die Untersuchung über bisherige Responsivitätsstudien hinaus, da die politischen und ökonomischen Auswirkungen ungleicher Repräsentation stärker beleuchtet und Verbindungen zu anderen sozialwissenschaftlichen Debatten aufgezeigt werden.1.2 Das Argument in KürzeDie vorliegende Arbeit zeigt, dass in Deutschland eine starke soziale Schieflage in der politischen Repräsentation besteht. Wer einer unteren sozialen Klasse angehört, hat eine geringere Chance darauf, dass seine oder ihre Anliegen politisch umgesetzt werden. Arbeiter und Arbeiterinnen, einfache Angestellte und Einkommensschwache sehen ihre politischen Forderungen weitaus seltener umgesetzt als Selbstständige, Beamte oder andere Spitzenverdiener - es sind also eben jene Gruppen, die sich in den letzten dreißig Jahren immer stärker aus der politischen Beteiligung zurückgezogen haben, die keine substanzielle Repräsentation erfahren. Dies gilt umso mehr dann, wenn die unteren und oberen Gruppen Unterschiedliches von der Politik fordern. Insgesamt kann im Untersuchungszeitraum von 1980 bis 2013 kein nachweisbarer Zusammenhang zwischen den Präferenzen unterer sozialer Klassen und den Entscheidungen des Bundestages festgestellt werden, während der Zusammenhang für die oberen Berufs- und Einkommensgruppen deutlich positiv ist.Selektive politische Responsivität lässt sich zudem unter allen im Untersuchungszeitraum regierenden Koalitionen finden. Das bedeutet, dass keine (Regierungs-)Partei seit den 1980er-Jahren die politischen Anliegen unterer sozialer Klassen systematisch mobilisiert und in den politischen Prozess getragen hat. Gleichzeitig haben die spürbaren Auswirkungen selektiver Responsivität im Zeitverlauf tendenziell zugenommen, denn die besonders umstrittenen Reformvorschläge von großer politischer Tragweite, die gegen den Willen von Arbeiterinnen und Arbeiter oder einfachen Angestellten umgesetzt wurden, finden sich vermehrt in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums. Diese dauerhafte und systematische Nichtbeachtung der Präferenzen unterer sozialer Klassen hat ein Repräsentationsdefizit entstehen lassen, das das demokratische Gleichheitsversprechen verletzt und damit die Legitimität der Demokratie untergräbt.Diese soziale Schieflage in der politischen Repräsentation ist auch deshalb bedeutend, weil wichtige gesellschaftliche Konfliktlinien weiterhin entlang sozialer Klassen verlaufen. Anders als in den 1980er- und 1990er-Jahren von vielen angenommen (Beck 1983; Clark, Lipset und Rempel 1993), hat die politische Bedeutung sozialer Klassen keineswegs abgenommen. Die Zugehörigkeit zur sozialen Klasse prägt nicht nur Bildungschancen, Arbeitsmarktrisiken oder Einkommen, sondern auch - beziehungsweise damit einhergehend - die politischen Einstellungen. Dabei steigen die Unterschiede in den politischen Präferenzen mit der sozialen Distanz und haben im Untersuchungszeitraum tendenziell zugenommen. In Verteilungsfragen sprechen sich untere Berufsgruppen weitaus häufiger für mehr Umverteilung oder eine stärkere Regulierung von Märkten aus, obere Berufsgruppen dagegen befürworten häufiger die Ausweitung von Marktmechanismen. In Bezug auf gesellschaftspolitische Fragen weisen obere Berufsgruppen dagegen tendenziell liberalere Einstellungen auf - insgesamt sind die Präferenzunterschiede in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen allerdings größer. Gleichzeitig zeigt die Untersuchung, dass die Ungleichheit in der politischen Repräsentation gerade in Verteilungsfragen besonders hoch ist.Verzerrte politische Entscheidungen zugunsten oberer sozialer Klassen legen deshalb den Schluss nahe, dass selektive Responsivität auch ökonomische Ungleichheit weiter verschärft, da staatliche Interventionen, die zu einer sozialen Absicherung und der Reduzierung von Einkommensungleichheit beitragen, stärker von sozial weniger begünstigten Gruppen befürwortet werden. Dies bestätigt die detaillierte Analyse der sozialstaatlichen Reformen im Bereich der Arbeitsmarkt-, Renten- und Familienpolitik. Ausweitungen sozialstaatlicher Leistungen wurden im Untersuchungszeitraum ausschließlich dann beschlossen, wenn nicht nur untere, sondern auch obere soziale Gruppen sie befürworteten. Dabei fanden die größten Ausweitungen - unter Zustimmung aller Berufsgruppen - im Bereich sozialinvestiver Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf statt. Gleichzeitig wurden viele Kürzungen, hauptsächlich im Bereich traditionell absichernder sozialstaatlicher Maßnahmen, mit der Zustimmung der sozial und ökonomisch Bessergestellten, aber gegen den Willen der unteren Berufsgruppen beschlossen. In Bezug auf den sozialstaatlichen Umbau in Deutschland argumentiere ich deshalb, dass die Schieflage politischer Repräsentation ein wichtiger Erklärungsfaktor für den Wandel zu einem stärker auf Arbeitsmarktaktivierung ausgerichteten Wohlfahrtsstaat ist. Damit knüpft die Arbeit an Argumente aus der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung an, welche die Erklärung für den Umbau zu einem "Sozialinvestitionsstaat" an der verstärkten Ausrichtung sozialdemokratischer Parteien an den Präferenzen der Mittelschicht festmachen (Gingrich und Häusermann 2015). Dieser Umbau hat in Deutschland zu einer Zunahme von Ungleichheit und Unsicherheit am Arbeitsmarkt geführt, von der wesentlich die sozial Schlechtergestellten betroffen sind. Die politische Exklusion unterer sozialer Klassen ist also nicht nur demokratietheoretisch höchst beunruhigend, sondern hat darüber hinaus auch ökonomische Konsequenzen. Politische und soziale Ungleichheit - so das zen­trale Argument - verstärken sich wechselseitig.Werden die Befunde in einem größeren Kontext und insbesondere im Vergleich mit den USA betrachtet, dann ergeben sich weitere wichtige Schlussfolgerungen für das Verständnis des Zusammenhangs von sozialer Ungleichheit und politischer Repräsentation. In Bezug auf potenzielle Ursachen für die systematische Verzerrung politischer Entscheidungen wird durch den deutsch-amerikanischen Vergleich deutlich, dass die privaten Partei- und Wahlkampfspenden, die im amerikanischen Politikbetrieb eine große Rolle spielen, nicht der alleinige ausschlaggebende Faktor sein können. Auch wenn rivalisierende Erklärungsansätze in dieser Untersuchung nicht abschließend geprüft werden können, deuten die Befunde darauf hin, dass sowohl die Machtverschiebung zwischen Interessengruppen zugunsten kapitalnaher Organisationen als auch die zunehmende soziale Homogenität politischer Eliten plausible Erklärungsansätze darstellen, die aber weiter erforscht werden müssen. Da in Deutschland trotz der unterschiedlichen institutionellen Voraussetzungen eine ähnliche soziale Schieflage in der politischen Repräsentation zu finden ist wie in den USA, weist die Arbeit zudem darauf hin, dass es sich hier um eine weitere länderübergreifende Krisentendenz gegenwärtiger Demokratien handelt.Die Ansicht, dass selektive Responsivität zulasten sozial und ökonomisch schlechtergestellter Gruppen die demokratische Legitimität untergräbt und damit als Krisenphänomen zu deuten ist, wird nicht von allen gegenwärtigen Beobachtern geteilt. Vor dem Hintergrund scheinbar immer instabileren politischen Verhältnissen hat in den letzten Jahren auch eine "alternative" Krisendiagnose an Auftrieb gewonnen, die nicht in den fehlenden Einflusschancen unterer sozialer Klassen, sondern in vermeintlich zu viel Mitsprache ein Problem für die Demokratie ausmacht (Brennan 2016; Caplan 2007). Diese Arbeiten stehen in der Tradition elitärer Demokratietheorien und argumentieren, dass insbesondere arme und formal wenig gebildete Wähler und Wählerinnen häufig nicht in der Lage sind, politisch komplexe Sachverhalte rational und informiert zu bewerten, und es deshalb normativ zu rechtfertigen sei, ihre Anliegen nicht zu berücksichtigen. Diese Argumente werden in dieser Arbeit - theoretisch wie auf Basis der eigenen empirischen Ergebnisse - zurückgewiesen. Vielmehr liegt hier ein Verständnis von politischer Repräsentation zugrunde, dem zufolge eine dauerhafte und systematische Nichtberücksichtigung der Anliegen sozial weniger privilegierter Gruppen zu einem Repräsentationsdefizit führt, as den Grundsatz politischer Gleichheit untergräbt.1.3 Aufbau der ArbeitDer verbleibende Teil des Buches ist folgendermaßen aufgebaut: Im anschließenden zweiten Kapitel folgt eine demokratietheoretische Einbettung der empirischen Untersuchung. Zunächst wird das der Arbeit zugrunde liegende theoretische Konzept von Repräsentation und (ungleicher) Responsivität vorgestellt und danach die Frage diskutiert, wie ungleiche Responsivität aus demokratietheoretischer Perspektive zu bewerten ist. Dabei wird der von elitären Demokratietheorien häufig vorgebrachte Einwand diskutiert, die weniger gebildeten Wähler und Wählerinnen aus unteren sozialen Schichten hätten keine ausreichende politische Kompetenz, weshalb eine Nichtbeachtung ihrer Anliegen normativ zu rechtfertigen sei. Kapitel 2 setzt sich kritisch mit den diesem Argument zugrunde liegenden Annahmen auseinander und zeigt auf, wie diese im Laufe der Arbeit einer empirischen Überprüfung unterzogen werden.Das dritte Kapitel gibt einen Literaturüberblick über die empirischen Arbeiten zu ungleicher Responsivität in den USA und Europa und den damit verbundenen Debatten zu den möglichen Ursachen für die bisherigen Befunde. Ausgehend von der Literaturdiskussion wird argumentiert, dass sich eine empirische Untersuchung für den deutschen Fall gut als Vergleichsstudie zu den USA eignet, um ungleiche politische Repräsentation auch im europäischen Kontext zu untersuchen und neue Erkenntnisse darüber zu gewinnen, welche Erklärungsmechanismen dieser Ungleichheit zugrunde liegen.In Kapitel 4 werden der für die Untersuchung erstellte Datensatz und die Analysestrategie vorgestellt. Zuvor erfolgt eine kritische Reflexion zum Umgang mit Umfragedaten zur Erfassung der öffentlichen Meinung, da die politischen Präferenzen der untersuchten sozialen Gruppen in dieser Arbeit mithilfe von repräsentativen Umfragen erfasst wurden, dieses Vorgehen aber nicht gänzlich unumstritten ist. Anschließend wird der Datensatz erläutert, der mehr als 700 Sachfragen zu politischen Änderungsvorschlägen enthält, die zwischen 1980 und 2013 erhoben wurden. Ein besonderer Fokus bei der Erläuterung der Daten liegt auf der Auswahl der verwendeten Sachfragen, da die Auswahl geeigneter Fragen entscheidend für die Aussagekraft der Analyse ist. Auch die Einteilung der Befragten in soziale Klassen, die in dieser Arbeit anhand von Berufsgruppen erfasst werden, wird in diesem Kapitel näher diskutiert.Die folgenden drei Kapitel sind der empirischen Analyse gewidmet und bilden somit das Kernstück der Studie. In Kapitel 5 werden zunächst die politischen Präferenzen der verschiedenen Berufsgruppen genauer betrachtet. So lässt sich erstens überprüfen, ob es substanzielle Unterschiede in den politischen Anliegen oberer und unterer Klassen gibt, da nur in diesem Fall überhaupt politischer Spielraum für selektive Responsivität besteht. Damit greift das Kapitel auch die sozialwissenschaftliche Debatte zu der Frage auf, ob die politische Bedeutung sozialer Klassen schwindet oder immer noch prägend ist für gesellschaftliche Konflikte. Durch eine inhaltliche Verortung der Präferenzen der betrachteten Berufsgruppen kann zudem spezifiziert werden, anhand welcher inhaltlichen Konfliktlinien die Unterschiede verlaufen und wie diese sich im Zeitverlauf entwickelt haben. Aufbauend auf dem Befund, dass bedeutende Einstellungsunterschiede zwischen sozialen Klassen zu beobachten sind, folgt im sechsten Kapitel die Responsivitätsanalyse. Mithilfe logistischer Regressionsanalysen wird der Zusammenhang zwischen den politischen Präferenzen einzelner Berufsgruppen und den politischen Entscheidungen des Bundestages geschätzt. Während für die oberen Berufsgruppen ein statistisch signifikanter und positiver Zusammenhang zwischen ihren Einstellungen zu politischen Reformen und deren Wahrscheinlichkeit auf Umsetzung besteht, kann kein solcher Zusammenhang für untere und mittlere Berufsgruppen festgestellt werden. Dieses Muster ungleicher Responsivität findet sich im gesamten Untersuchungszeitraum, besonders stark aber in Verteilungsfragen.Um der Frage weiter nachzugehen, welche Auswirkungen diese systematische Verzerrung der politischen Entscheidungen hat, folgt in Kapitel 7 eine detaillierte Betrachtung des Bereichs der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit Fokus auf den wichtigen Reformen, die im Untersuchungszeitraum verabschiedet wurden. Dieses Kapitel ist eingebettet in die Literatur zur vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, die sich mit den Ursachen für den vielerorts beobachteten Wandel zu einem "aktivierenden" Wohlfahrtsstaat befasst.Das achte und letzte Kapitel dient einer Zusammenfassung und einer kritischen Interpretation der empirischen Ergebnisse, die zu diesem Zweck in die größere Debatte um die politischen Folgen sozialer Ungleichheit eingeordnet werden. In erster Linie werden die politischen Konsequenzen und theoretischen Implikationen ungleicher Responsivität näher beleuchtet. Die Gesamtschau der empirischen Ergebnisse erlaubt zudem einen deutsch-amerikanischen Vergleich der Befunde, der Aufschluss über die Plausibilität der in der Literatur verbreiteten Erklärungsansätze für selektive Responsivität gibt. Die vergleichende Perspektive lässt den Schluss zu, dass die privaten Partei- und Wahlkampfspenden, die im amerikanischen Politikbetrieb eine große Rolle spielen, nicht der alleinige ausschlaggebende Faktor sein können. Darüber hinaus zeigt die Schlussdiskussion auf, welche theoretischen Beiträge die Arbeit zu anknüpfenden sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern leistet und welche demokratietheoretischen Implikationen aus den empirischen Befunden folgen.
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