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Praktische Sexualmedizin

eBook - Eine Einführung. Erweiterte Neuausgabe
ISBN/EAN: 9783593445717
Umbreit-Nr.: 9803384

Sprache: Deutsch
Umfang: 212 S., 3.04 MB
Format in cm:
Einband: Keine Angabe

Erschienen am 16.09.2020
Auflage: 1/2020


E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen
€ 31,99
(inklusive MwSt.)
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  • Zusatztext
    • Sexuelle Probleme und Störungen können vielfältige Ursachen haben. In dieser, im Jahr 2005 im Deutschen Ärzte-Verlag erstmals erschienenen Einführung in die »Praktische Sexualmedizin« verschafft der renommierte Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch einen ganzheitlichen Zugang zu einem Feld, auf dem nach wie vor viel Unwissenheit und auch Sprachlosigkeit herrscht. Er beschreibt sexuelle Störungen und Probleme in jedem Lebensalter aus medizinischer, psychologischer und soziokultureller Sicht und bezieht dabei Fragen der Diagnostik, Beratung und Behandlung mit ein. Das Buch bietet damit die sexuologische Basiskompetenz und richtet sich sowohl an Ärzt_innen, Therapeut_innen und Psycholog_innen als auch an Sozialwissenschaftler_innen, Sexual- und Geschlechterforscher_innen.Erweiterte 2. Auflage mit einem aktuellen Vorwort von Volkmar Sigusch.

  • Autorenportrait
    • Volkmar Sigusch (19402023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (19732006) national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch »Sexuelle Störungen und ihre Behandlung« gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie.Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt.Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: »Neosexualitäten« (2005), »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008), »Personenlexikon der Sexualforschung« (2009, zusammen mit Günter Grau), »Die Suche nach der sexuellen Freiheit« (2011), »Sexualitäten« (2013) und »Kritische Sexualwissenschaft« (2019).
  • Leseprobe
    • VorwortVor 15 Jahren habe ich für den Deutschen Ärzte-Verlag in Köln eine Einführung in die »Praktische Sexualmedizin« verfasst. Mit meiner Emeritierung sind deren Rechte wieder an mich zurückgefallen, sodass ich mich jetzt mit Texten aus dieser Einführung auch an so genannte Laien wenden kann.Dummerweise erhalten Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen hierzulande nach wie vor in ihrem Studium keine entsprechende Ausbildung. Sexualmedizin und Sexualpsychologie werden an unseren Universitäten nach wie vor nicht nach dem Gesetz unterrichtet. Nur an einigen Universitäten gibt es für die Studierenden kleine Einsprengsel.An wen ich damals beim Schreiben vor allem gedacht habe? Zunächst an Allgemein- und Hausärzt*innen, die viele Lebensläufe erleben, die Geheimnisse erfahren oder erraten, die Weichen stellen und falsche Entscheidungen verhindern können. Ich habe aber auch an psychologische Psychotherapeut*innen gedacht, weil sie dem Buch entnehmen konnten, an welche körperlichen Ursachen und an welche körperlichen Behandlungsverfahren zu denken ist, wenn ein Patient ein sexuelles Problem hat. Die Ärzt*innen wollte ich im Interesse der Sache vor allem mit der psychischen Seite der Probleme konfrontieren, die Psycholog*innen mit der körperlichen und beide zusammen mit der kulturellen. Obgleich die genannten Dimensionen im Lebensprozess untrennbar ineinander liegen, werden sie bei uns durch die historische Entwicklung der wissenschaftlichen Sphäre bedauerlicherweise immer wieder disziplinär getrennt.Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist die medizinische und psychotherapeutische Versorgung von Patientinnen und Patienten mit sexuellen Problemen und Störungen in Deutschland nach wie erschütternd schlecht. Deshalb hoffe ich sehr, dass dieser Grundriss der Sexualmedizin meine lieben Kolleginnen und Kollegen und natürlich belesene Menschen aller Geschlechter anregen wird, eine notwendige sexualmedizinische Behandlung durch Ärzt*innen verschiedener Disziplinen zu erringen. Sehr traurig ist, dass eine curriculare und zertifizierte Fortbildung in zwei Stufen (»Sexuologische Basiskompetenzen« und »Sexualtherapie«), die wir vor Jahren für die lieben Kolleginnen und Kollegen etabliert haben, wieder verschwindet.Etliche der nachfolgenden Beiträge sind aus einer Fortbildungsserie hervorgegangen, die ich vor Jahren für Allgemein- und Hausärzt*innen geschrieben habe. Da diese Artikel wegen ihrer Kürze und Schnörkellosigkeit großen Anklang bei den Kolleginnen und Kollegen fanden, habe ich sie als Muster für diese Einführung in die praktische Sexualmedizin benutzt.Frankfurt am Main, im Juni 2020Prof.Dr. med. Dr. habil. Volkmar SiguschSexualität im kulturellen WandelVeränderungen des Sexuallebens in den letzten JahrzehntenJeder Arzt, der das Sexualleben seiner Patienten ernst nimmt, weiß, dass die Wertvorstellungen, Sehnsüchte und Erfahrungen von Generation zu Generation erheblich differieren. Deshalb sind einige Bemerkungen zur allgemeinen Lage des Sexuellen in unserer Kultur notwendig, bevor einzelne Störungen und ihre Behandlung erörtert werden.Da der Arzt bei allen medizinischen Fragen, die nicht mit Hilfe naturwissenschaftlich begründeter Untersuchungsverfahren zu beantworten sind, auf sich selbst als »Untersuchungsinstrument« angewiesen ist, sollte er reflektieren, welcher Generation er selbst angehört und welchen Vorstellungen vom gesunden und glücklichen Liebesleben er folglich verpflichtet ist.Viele Ärztinnen und Ärzte, die heute praktizieren, gehören Generationen an, über die so genannte sexuelle Revolutionen hereingebrochen sind. Als sich die Werte und Normen, das Erleben und Verhalten zum Teil drastisch veränderten, befanden sie sich in jenem Alter, in dem noch nicht alle sexuellen Weichen gestellt sind. Sie wurden also, ob sie wollten oder nicht, von der sexuellen Revolution erfasst, selbst die, die sich dagegenstemmten. Denn auch der, der gegen den Strom schwimmt, schwimmt im Strom.Reale und symbolische SexualitätZur Zeit der sexuellen Revolutionen wurde die Sexualität mit einer solchen Mächtigkeit ausgestattet, dass einige davon überzeugt waren, durch ihre Entfesselung sogar die ganze Gesellschaft stürzen zu können. Andere verklärten die Sexualität zur menschlichen Glücksmöglichkeit schlechthin. Generell sollte sie so früh, so oft, so vielfältig und so intensiv wie nur irgend möglich praktiziert werden. Generativität, Monogamie, Treue, Virginität und Askese waren Inbegriff und Ausfluss der zu bekämpfenden Repression. Dass mit der »Befreiung« erhebliche Fremd- und Selbstzwänge, neue Probleme und alte Ängste einhergingen, wollten die Propagandisten nicht wahrhaben. Sie verlangten zum Beispiel Geschlechtsverkehr in der Schule.Heute ist davon keine Rede mehr. Das, was die Generationen einer sexuellen Revolution als Lust, Rausch und Ekstase erlebten oder ersehnten, problematisierten unsere jüngeren Patienten unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz, der sexuellen Übergriffigkeit, der Missbrauchserfahrung, der Gewaltanwendung und der Infektionsgefahr infolge des Einbruchs der Krankheit AIDS. Diese Vokabeln habe ich mir nicht ausgedacht. Sie bezeichnen die Topoi der wissenschaftlichen Diskussion seit den 1980er-Jahren und die Themen, die Jugendliche und junge Erwachsene seither beschäftigten.Wurde früher die generative von der sexuellen Sphäre so sehr getrennt, dass man den Eindruck haben konnte, Fortpflanzung und Sexualität hätten gar nichts miteinander zu tun, erfolgten in den letzten Jahrzehnten andere Dissoziationen. Die wichtigste ist wohl die, deren Stichwort Geschlechterdifferenz heißt. Für viele Menschen, in und außerhalb der Wissenschaft, gibt es jetzt nicht nur eine Sexualität, die männliche als das Modell, deren Negativ die weibliche Sexualität ist, sondern zunächst einmal zwei deutlich unterschiedene Sexualitäten: die weibliche und die männliche. Dabei werden selbstredend die Differenzen übertrieben, wenn es heißt, Frauen seien generell friedfertig und immer Opfer, Männer dagegen seien prinzipiell gewalttätig, impotent und geil.Chancen und RisikenJeder kulturelle Wandel birgt Chancen und Risiken. Die sexuellen Revolutionen bekämpften eine unerträgliche Heuchelei in allen Fragen des Geschlechtslebens, entpathologisierten Praktiken wie die Selbstbefriedigung, schnitten blödsinnige Zöpfe ab wie den Kuppeleiparagraphen, rangen um eine allgemein zugängliche, verträgliche und wirksame Kontrazeption, problematisierten das Verhältnis von Eltern und Kindern. Endlich wurden Dunkelfelder aufgehellt wie der sexuelle Missbrauch in der Familie, herrschte eine Pluralisierung der Lebensformen, von der frühere Generationen nicht einmal träumen konnten, wurde nicht mehr alles über den metaphysischen Kamm des ungeteilten Eros geschoren. Auf der Schattenseite aber tummeln sich nach wie vor die Übertreibungen und Verdächtigungen, die Vermarktungen und Banalisierungen.Der Arzt, der berät und behandelt, kommt nicht umhin, den ständigen kulturellen Wandel zu bedenken, dem die scheinbar natürlich vorausgegebene Sexualität unterliegt. Für unsere jungen Patientinnen und Patienten regiert kein König Sex mehr. Er wurde durch die Geschlechterkampf- und Missbrauchsdiskurse und auch durch die kulturelle Installation eines AIDS-Komplexes in den 1980er-Jahren vom Thron gestoßen. Heute erleben junge Menschen ihre Sexualität nicht mehr so dranghaft und unaufschiebbar wie in den Generationen zuvor. Etliche erleben sie überhaupt nicht mehr bewusst. Kommen sie in die Sprechstunde, klagen sie über »Lustlosigkeit«, eine »Störung«, die wir seit der Jahrtausendwende zunehmend beobachten.Während die einen lustlos sind, erfinden die anderen neue Obszönitäten, um sich zu erregen. Mit und ohne sexuelle Revolutionen versehen Menschen immer wieder das, was unveränderbar schien, mit anderen Bedeutungen, erleben verpönte sexuelle Praktiken wie den Oralverkehr »auf einmal« als ganz normal. Am Beginn des 20. Jahrhunderts nannte Sigmund Freud solche Praktiken »pervers«. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wies Alfred Charles Kinsey nach, dass sie in der Normalbevölkerung weit verbreitet sind. Von diesem Schock konnten sich die USA lange nicht moralisch erholen.Für unsere Arbeit ist wichtig, dass sich die realen und symbolischen Bedeutungen der Sexualität innerhalb eines Jahrzehnts drastisch verändern können. Neue Therapien treten dann auf den Plan, und alte werden verpönt. So können wir uns heute nicht mehr gestatten, einen alten Mann, der an seiner sexuellen Asthenie leidet, zwischen zwei blühende junge Frauen zu legen, auf dass deren Vitalität auf ihn überspringe wie es unsere Vorväter mit großem Erfolg praktiziert haben.JugendsexualitätDas Sexualleben der Heranwachsenden, das die Sexualwissenschaft seit Jahrzehnten empirisch erforscht, oszillierte in den letzten Jahrzehnten zwischen stiller Beziehungstreue und schrillen Selbstinszenierungen auf Liebesparaden.Geht es um Jugendsexualität, ist die deutsche Sexualwissenschaft empirisch in einer recht glücklichen Lage. Denn über Jahrzehnte wurde vorrangig die Sexualität junger Leute studiert. So wurden beispielsweise elf bis 16-jährige Schülerinnen und Schüler, 16- und 17-jährige Jugendliche, 20- und 21-jährige Arbeiterinnen und Arbeiter, 19- bis 30-jährige Studierende sowie Homosexuelle und Paare mit sexuellen Problemen aus allen Altersgruppen interviewt. Da einige Studien in großen Abständen wiederholt worden sind, ist es möglich, gesicherte Aussagen zu den Veränderungen im Verlauf von Jahrzehnten zu machen.Ende der 1960er-Jahre stellten wir fest, dass sich die damals 16- und 17-Jährigen sexuell so verhielten wie die 19- und 20-Jährigen zehn Jahre zuvor (Sigusch und Schmidt 1973). Das, was »sexuelle Revolution« genannt wurde, bestand also hinsichtlich des Verhaltens darin, etwa drei Jahre früher mit Verabredungen, Küssen, Petting und Geschlechtsverkehr zu beginnen. Die tradierten Wertvorstellungen wurden jedoch nicht in Frage gestellt. Liebe, Treue, Ehe und Familie bestimmten weiterhin die moralischen Vorstellungen der jungen Leute. Sie interpretierten sie aber nicht so eng und vor allem nicht so männerzentriert wie die Generationen davor. Statt einer festen Beziehung vor der Ehe plädierten sie für mehrere Liebesbeziehungen mit gegenseitiger Treue, sodass wir damals den Standard »passagere Monogamie vor der Ehe« diagnostizierten.Wichtig ist, dass damals viele Jugendliche Sexualität als lustvoll und beglückend erlebten und nicht mehr so stark wie ihre Eltern unter Ängsten und Schuldgefühlen litten. Das war historisch etwas wirklich Neues, vor allem für Mädchen und junge Frauen. Neben der allgemeinen sexuellen Liberalisierung in der Gesellschaft hat sicher die Einführung der »Pille« zu dieser Entspannung beigetragen.Enthemmt oder enthaltsam?Wie sah es nun später aus? Einerseits sehr ähnlich, andererseits recht different (Schmidt 1993/2000). Ähnlich, weil Jugendliche später mit Dating, Küssen, Petting und Geschlechtsverkehr nicht früher begannen und auch keine umfangreicheren Erfahrungen machten als am Ende der 1960er-Jahre. Insofern hatte sich die »sexuelle Revolution« nicht fortgesetzt. Berichte in den Medien, nach denen die Jugend entweder sexuell enthemmt sei oder sich von der Sexualität ganz verabschiedet habe, gingen gleichermaßen an der Wirklichkeit vorbei. Nach wie vor hatten damals mit 16 oder 17 Jahren etwa drei Fünftel der Jungen und Mädchen schon einmal genitales Petting und etwa zwei Fünftel schon einmal Geschlechtsverkehr erlebt.Auch die zentralen Wertvorstellungen hatten sich nicht wesentlich verändert. Junge Männer banden die Sexualität sogar noch stärker an eine feste Liebesbeziehung mit Treue als vor einer Generation. Sie waren zwar noch nicht so romantisch wie junge Frauen, legten aber deutlich größeren Wert auf gegenseitiges Verstehen und Vertrauen. Häufiger als früher gestanden sie ihrer Freundin Gefühle, vor allem die der Liebe. Große Angst hatten Jugendliche vor dem Verlassenwerden, vielleicht weil sie als Nachkommen der sexuellen »Revolutionäre« erfahren mussten, dass Ehen weder heilig sind noch ewig.Was aber hat sich damals geändert? Wie in der Gesellschaft insgesamt hatte auch für junge Leute die symbolische Bedeutung der Sexualität abgenommen. Sie ist heute selbstverständlicher, ja banaler, wird nicht mehr so stark mystisch überhöht. Weil sie nicht mehr die große Überschreitung ist, kann sie auch unterbleiben. Junge Männer, die sexuell abstinent leben, können sich heute eher dazu bekennen, ohne von ihren Freunden automatisch verhöhnt zu werden. Junge Frauen geben heute seltener an, dass ihre sexuellen Erlebnisse lustvoll und befriedigend waren. Jungen erleben die Pubertät nicht mehr wie früher als den unbeherrschbaren Einbruch des Sexualtriebes. Auch später erleben sie ihre Sexualität nicht mehr als so dranghaft und unaufschiebbar.Dazu passt, dass sie heute weniger Sexualpartnerinnen haben als vor einer Generation. Von Promiskuität kann sowieso keine Rede sein. Nur Minderheiten haben im Jugendalter mehr als einen bis maximal drei Sexualpartner. Gleichzeitig sind Selbstbefriedigung und gleichgeschlechtliche Erlebnisse nicht mehr so bedeutungsvoll. Während der Rückgang der Onanie nur gering ist, sind homosexuelle Kontakte inzwischen eine Rarität. Früher machte beinahe jeder fünfte Junge derartige Erfahrungen, heute sind es nur noch zwei Prozent.Verhältnis der GeschlechterFür diese Veränderungen gibt es viele Gründe. Genannt habe ich bereits die kulturelle Entmystifizierung der Sexualität. Sie ging in den letzten Jahrzehnten mit dem Abbau von Sexualverboten und der Egalisierung der Geschlechter einher. Heute wachsen Mädchen und Jungen von der Kindheit an zusammen auf, wie sich an der allgemein durchgesetzten Koedukation ablesen lässt. Sexuelle Betätigung im Jugendalter, allein oder zu zweit, wird heute von vielen Eltern akzeptiert oder sogar befürwortet. Geschlechtsverkehr findet ganz überwiegend nicht mehr heimlich an konspirativen Orten statt, sondern zu Hause inmitten der Familie. Diese »Familiarisierung« der Jugendsexualität bringt natürlich neue Probleme im Sinne einer fürsorglichen Belagerung mit sich.Der Wegfall der Verbote und die Annäherung der Geschlechter haben der homophilen Jugendphase, die einst von den Dichtern besungen worden ist, den Garaus gemacht. Seitdem die Homosexualität als eine eigene Sexualform öffentlich verhandelt wird, steht die Befürchtung der Jungen im Vordergrund, als »Schwuler« angesehen zu werden. Dass die Homosexualität auch noch mit der Krankheit AIDS auf besonders enge Weise verbunden ist, schreckt gewiss zusätzlich ab.Insgesamt ist die Bedeutung von AIDS für die sexuelle Entwicklung junger Leute nicht ganz leicht einzuschätzen. Nach dem, was sie bewusst im Kopf haben, scheint der Einfluss relativ gering zu sein. So kennen die meisten Jugendlichen die Übertragungswege des Erregers, und die allermeisten verhalten sich so, dass es gar nicht zu einer Infektion kommen könnte. Wie es jedoch im Unbewussten aussieht, welche irrationalen Ängste Heranwachsende haben, wissen wir viel zu wenig.Doch zurück zum Verhältnis der Geschlechter, das heute im Zentrum des Geschehens steht. Ging es vor ein bis zwei Generationen um den Trieb des Mannes und den Orgasmus bzw. die Anorgasmie der Frau, geht es heute darum, wie junge Frauen und Männer am besten miteinander zurechtkommen. Wichtiger als der sexuelle Akt ist eine feste Beziehung, in der sich die Partner angenommen und aufgehoben fühlen. Pointiert gesagt, ist das der historische Weg von der Wollust zur Wohllust. Beschritten werden konnte er nur, weil Tabus und Geschlechterdifferenzen abgebaut worden sind und sich Jungen allmählich trauen, Gefühle zu zeigen und darüber mit ihrer Freundin zu sprechen, obgleich sie immer noch eher als Mädchen dazu erzogen werden, stark und hart zu sein.
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