Bibliografie

Detailansicht

Sexualitäten

Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten
ISBN/EAN: 9783593519104
Umbreit-Nr.: 1063782

Sprache: Deutsch
Umfang: 626 S.
Format in cm: 3.9 x 22.9 x 15.3
Einband: kartoniertes Buch

Erschienen am 26.10.2023
Auflage: 2/2023
€ 40,00
(inklusive MwSt.)
Sofort Lieferbar
  • Zusatztext
    • Sigmund Freuds Sexualtheorie ist inzwischen mehr als 100 Jahre alt. Seitdem hat sich viel verändert. Wir denken und arbeiten heute nicht nur anders, wir begehren und lieben auch anders. Die Sexualität ist nicht mehr die große Metapher des Rausches und der Revolution. Sie wird heute durch Medien und Kommerz weitgehend banalisiert. Vor diesem Hintergrund legt der große Sexualforscher Volkmar Sigusch mit diesem Buch eine eigene Sexualtheorie vor, die erstmals auch die Neosexualitäten unserer Zeit wie Internet-, Portal- und Asexualität umfasst, Neogeschlechter wie Trans-, Inter- und Agender sowie Neoallianzen wie Polyamorie und Objektophilie. Selbstverständlich werden auch die alten Formen wie Hetero-, Homo- und Bisexualität, Sadomasochismus und Pädophilie erörtert. Der Kern der Sigusch-Theorie lautet: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil das Sexuelle sich der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten gesprochen werden. Und weil sich eine Sexualtheorie nur durch Praxis erhellt, geht Sigusch auf die gelebte Sexualität der Kinder, der Jugendlichen, der Paare, der Alten und vieler anderer ein - kritisch und konkret.

  • Autorenportrait
    • Volkmar Sigusch (1940-2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er - insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973-2006) - national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch »Sexuelle Störungen und ihre Behandlung« gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie. Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt. Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: »Neosexualitäten« (2005), »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008), »Personenlexikon der Sexualforschung« (2009, zusammen mit Günter Grau), »Die Suche nach der sexuellen Freiheit« (2011), »Sexualitäten« (2013) und »Kritische Sexualwissenschaft« (2019).
  • Schlagzeile
    • Was Sie alles über Sexualität wissen könnten
  • Leseprobe
    • Ein Stein ist mir vom Herzen gefallen. Vor Jahren forderte mich eine Rezensentin des Buches "Anti-Moralia" auf, die verstreuten Bemerkungen zu einer neuen Kritischen Sexualtheorie zusammenzuführen. Diese Aufforderung hat mich in den letzten Jahren begleitet. Mit dem Erscheinen der vorliegenden 99 Fragmente lege ich das vor, was mir möglich ist. Die Sexualwissenschaft hat in 150 Jahren so viele Daten aufgehäuft, Schicksale dargestellt, Debatten geführt, Thesen formuliert, Sumpfblüten produziert und Termini in die Welt gesetzt, dass es mir notwendig zu sein scheint, den ungeheuren Faktenberg, den ungeheuren Meinungswust, den niedergelegten Erfahrungsschatz, aber auch die Affirmationen, Ausblendungen, Irrtümer und Privatheiten, die ich in meiner "Geschichte der Sexualwissenschaft" (2008) beschrieben habe, mit dem Versuch einer begrifflichen Bestimmung, ja mit dem Grundriss einer allgemeinen Sexualtheorie zu konfrontieren - in der Hoffnung, Getrenntes zusammenzuführen, Beliebigkeiten zu überwinden, Ideologisches zu enttarnen, ohne zu sagen: wie nun alles einzig zu sehen sei. Die Haltbarkeit aller Sexualtheorien ist zeitlich begrenzt, weil die menschliche Sexualität nichts ist, was seit Jahrtausenden unverändert wäre wie der Salzgehalt des Blutes. Im 20. Jahrhundert haben sich drei sogenannte sexuelle Revolutionen ereignet, die letzte, von mir neosexuelle Revolution genannt, begann vor drei Jahrzehnten. Die Umcodierung und Umwertung der alten Geschlechts-, Liebes- und Sexualformen ist dadurch in den Ländern des Westens so einschneidend gewesen, dass wir theoretisch und praktisch umdenken müssen. Allein die technologische, kulturelle und personale Trennung der Fortpflanzungssphäre von der Sexualsphäre hat die alten Theorien entwertet. Noch aber zehren wir vor allem von Sigmund Freuds "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie", die vor mehr als einhundert Jahren erschienen sind. Dabei denken, fühlen, arbeiten, lieben, leben und sterben wir heute anders. Als Michel Foucault vor Jahrzehnten zurückblickte, sah er vier strategische Komplexe seiner unsere Sexualität erfindenden Wissens- und Macht-Dispositive. Diese vier historischen Einschnitte waren: die Hysterisierung des weiblichen Körpers, die Pädagogisierung der kindlichen Sexualität, die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und die Psychiatrisierung der perversen Lust. Heute gelten diese Beobachtungen nicht mehr. Heute beschreiben wir stattdessen vor allem die Resexualisierung der weiblichen Sexualität, die Tabuisierung und den Missbrauch der kindlichen Sexualität, die Ungleichbehandlung der Geschlechter, das Auseinanderfallen von Sexualität und Fortpflanzung, das Abdanken von Heterosexualität und Ehe als einzige Lebens- und Liebesmodelle sowie die Kulturalisierung und partielle Anerkennung vordem als pervers klinifizierter Sexualitäten. Vor wenigen Jahrzehnten hätten die Bewohner Mitteleuropas nicht für möglich gehalten, was wir heute erleben: In "wilder Ehe" Lebende oder offen homosexuell Begehrende können höchste Staatsämter einnehmen, gehen eine staatlich anerkannte Lebenspartnerschaft ein. Transsexuelle können ihr Geschlecht wechseln, mit oder ohne Operation. Bisexuelle können gleichzeitig mit einem Mann und einer Frau intim verbunden sein. Sadomasochisten können im Fernsehen demonstrieren, wie manfrau sich ohne böse Folgen verletzt. Im Internet können Singles in zahllosen Portalen einen Partner suchen, der ihren Vorstellungen entspricht. Dort werden ohnehin alle undenkbaren sexuellen Vorlieben weltumspannend präsentiert. So können natürlich auch Pädophile unbehindert von Aufsichtsbehörden im Internet hunderttausende Fotografien nackter Kinder zur sexuellen Stimulation benutzen. Selbst ein Kannibale findet ein menschliches Objekt. Gleichzeitig werden die sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmungsrechte der Frauen abgebaut und Sexualstraftäter rücksichtsloser bestraft. Ein Beispiel für die insgesamt paradoxalen Verhältnisse. Merkwürdiger und bedauerlicherweise hat sich, von ganz ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, die akademische Soziologie trotz der enormen Transformationen bisher nicht in der Lage gesehen, Sexualität, Kultur und Gesellschaft kritisch zusammen zu denken (Sigusch 2010b). Und auch die Psychoanalyse und die aus wenigen Personen bestehende akademische Sexualwissenschaft kamen über verstreute Ansätze nicht hinaus. Die verbleibenden Wissenschaften schweigen ohnehin oder tischen uralte biologistische Ladenhüter auf. So blieb es oft bei Theoremen, die vor mehr als einhundert Jahren aufgestellt worden sind, als hätten sich seither Gesellschaft, Kultur und Leben bei uns nicht drastisch verändert. Dabei gab Sigmund Freud schon vor der vorletzten Jahrhundertwende als Theoretiker zu bedenken, dass man immer ein Kind seiner Zeit bleibe. Kritische Sexualwissenschaft, die immer wieder von den Universitäten vertrieben wird, ist weiterhin notwendig, weil unsere vor einigen Jahrhunderten als allgemeine kulturelle Form entstandene Paläosexualität noch nicht ganz in Vollzug, Marktförmigkeit, Apathie und Aggression untergegangen ist. Nach der zweiten sexuellen Revolution hatte die Medizin der Sexualwissenschaft einen kleinen Finger gereicht, den sie jetzt wieder wegzieht, weil vor allem Neurowissenschaften die Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen versprechen. Da die Medizin immer mehr zur Hure der Ökonomie wird, haben kritische Sexualwissenschaft und kritische Sexualmedizin jenseits der Pharmaindustrie keine Chance mehr. Sich um missbrauchte Kinder, vergewaltigte Frauen, sexsüchtige Männer, einen Geschlechtswechsel ersehnende Transsexuelle, tote Gegenstände Liebende, im Iran verfolgte Homosexuelle usw. kümmern, ist unergiebig, wirft keinen Gewinn ab. Und auch medial ist kritische Sexualwissenschaft ein Trockengebiet. Die Feuchtgebiete überlässt sie anderen. Doch das sexuelle Elend dauert an, die Einsamkeit, die Selbstbezüglichkeit, die Unvereinbarkeit, die Mystifikation, drapiert durch Neosexualitäten, Neogeschlechter und Neoallianzen, die noch um ihre kulturelle Anerkennung kämpfen. Ein Blick auf die Leistungen der Kritischen Sexualwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zeigt, warum eine solche Wissenschaft theoretisch und praktisch benötigt wird. Die Kluft zwischen der diskursiven und veröffentlichten Sexualität einerseits und dem realen und unveröffentlichten Sexualleben der allermeisten Bürgerinnen und Bürger andererseits ist gewaltig. Wichtig ist mir außerdem zu sagen, dass ich als ein weißer Mann aus Mitteleuropa spreche, der bewusst zwei politische Systeme erlebt hat, das ost- und das westdeutsche. Es spricht also nicht ein Mann aus China oder eine schwarze Frau aus Afrika. Ich sage das, weil ich davon überzeugt bin, dass "unsere" Sexualität als kulturell-gesellschaftliche Form nur in Europa und in Nordamerika existiert. Wichtig ist mir auch zu sagen, dass angesichts der heutigen Komplexität der Forschungsverhältnisse und des Forschungsgegenstandes der eigene Horizont benannt und bedacht werden sollte. Denn selbstverständlich blickt ein Mediziner anders auf einen Gegenstand oder eine Szene oder überhaupt in die Welt als ein Philosoph. Mein Horizont umfasst das Studium der Medizin sowie begrenzt der Psychologie und Philosophie, Praxis in mehreren medizinischen Fächern, darunter insbesondere Psychiatrie, Psychotherapie, Gynäkologie und Sexualmedizin, Forschung zunächst vor allem sozialpsychologisch in empirischer und experimenteller Richtung, später klinisch-therapeutisch, kulturtheoretisch und sexualhistorisch sowie Lehre als Professor für Sexualwissenschaft im Fachbereich Medizin und für Spezielle Soziologie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften. Mein Bemühen kreist um Sexualität als kultureller und gesellschaftlicher Begriff, nicht als physiologischer oder psychologischer. Denn selbst die Liebe ist in erster Hinsicht ein kulturell-gesellschaftliches Ereignis und nicht ein psychologisch-biologisches. Um das zu erkennen, genügt ein schweifender Blick über die europäischen ...
Lädt …